Ingo Naujoks wurde als Sohn eines Krupp-Stahlkochers in Bochum geboren und gilt als die „Geheimwaffe“ des deutschen Fernsehens und Kinos. Und das, obwohl ihn eine staatliche Schauspielschule nicht wollte. Nur wenige haben so viele unterschiedliche Rollen und Charaktere verkörpert wie der markante und sympathische Wahlberliner mit der Reibeisenstimme. Die Krimi-Serie „Die Straßen von Berlin“ machte ihn 1995 deutschlandweit bekannt.
Naujoks drehte mit Detlev Buck, Joseph Vilsmaier und Doris Dörrie. Nach Stationen in Steglitz, Mitte und Kreuzberg lebt der 62-jährige Familienvater inzwischen im gemütlichen Charlottenburg. Berlin ist seine große Liebe, doch die Stadt mutet einem auch ganz schön viel zu, sagt er im KURIER-Interview. Vom 18. August an spielt Ingo Naujoks im Stück „Die Tanzstunde“ im Heimathafen Neukölln – einer Nebenbühne der Komödie am Kurfürstendamm – passenderweise einen echten Stadtneurotiker. Regie führte der Hausherr, Martin Woelffer.
Herr Naujoks, die Leute lieben es zu tanzen, jetzt sehen wir Sie tanzend auf der Bühne. Aber im Stück geht es natürlich um weit mehr als nur um Tanz. Richtig?
In dem Stück geht es um zwei einsame Menschen. Ever Montgomery, den ich spielen darf, leidet an einer Form von Autismus, dem Asperger-Syndrom. Bei einer Gala soll ihm ein Preis verliehen werden. Und es wird von ihm erwartet, dass er dort auch auf die Tanzfläche geht. Da er aber Asperger-Patient ist, fällt ihm das äußerst schwer, denn er kann sich nicht anfassen lassen und auch Augenkontakt ist schwierig für ihn.
Wie schafft er es trotzdem?
Er hat eine Nachbarin, Senga, die Tänzerin ist. Bei einem Autounfall wurde ihr Knie zerschmettert und wahrscheinlich wird sie nie wieder tanzen können. Doch sie gaukelt sich und ihrer Umgebung vor, dass alles wieder gut wird. Ever nimmt Kontakt zu ihr auf und bittet sie darum, ihm Tanzunterricht zu geben. So treffen Senga, die sich ständig belügt, und Ever, der nicht lügen kann, aufeinander. Für ihn ist sie ein Anker in die „richtige“ Welt. Es entwickelt sich eine Beziehung zwischen den beiden, und er bittet sie darum, ihn zu der Gala zu begleiten. Das Ende bleibt offen.

Ingo Naujoks war wie vom Donner gerührt
Ich hörte, Sie lehnen auch schon mal Rollen ab: Was hat Sie an der hier interessiert?
Das Stück ist komisch und tragisch. Ich sage immer: „Wenn man den Text kann und nicht immer gegen die Möbel rennt, spielt sich das Stück von alleine.“ Ich habe das Stück ja schon auf einer Tournee gespielt. Als ich damit zum ersten Mal vor Publikum aufgetreten bin und am Ende des Stücks der Beifall über uns brandete, war ich wie vom Donner gerührt. Nie vorher habe ich so einen herzlichen Applaus erfahren. Ich gebe zu, dass mich das sehr gerührt hat. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Der Professor, den Sie spielen, ist ein bisschen sensibel, Sie sagten es bereits. Das scheint eine Krankheit unserer Zeit zu werden. Darf man Ihre Rolle auch sinnbildlich verstehen?
Auf jeden Fall. Ich glaube, es gibt mittlerweile viele Menschen, die sich durch Internet, Streamingdienste und Videospiele von der Realität verabschiedet haben. Die halten sich nur noch in der Wohnung auf, bestellen Essen über Lieferdienste und trauen sich nicht raus, weil sie keine Kontakte mehr haben. Vor einiger Zeit bin ich an einer Gruppe von jungen Menschen vorbeigelaufen, und jeder von denen hat auf sein Handy gestarrt. Manchmal frage ich mich, ob das nicht auch ein Krankheitsbild ist.

Was macht das Tanzen mit einem, der derart menschenscheu und einsam ist?
Tanz ist etwas sehr Archaisches. Bei Götteranbetungen, Begräbnissen, bei Feiern wird getanzt. Vielleicht ist das Tanzen in unsere Gene eingebaut: das Gefühl der Ekstase, das Gefühl, mit anderen Menschen den gleichen Rhythmus zu haben. Die Hypnose arbeitet ja teilweise auch mit Tanz. Tanz kann auch Therapie sein. Man öffnet sich, bekommt wieder Spaß an Dingen. Das macht Tanzen wertvoll.
Und was hat es mit Ihnen als Schauspieler gemacht? Immerhin ist Nadine Schori gelernte Friedrichstadt-Palast-Tänzerin?
Der Tanz, den ich mit Nadine Schori im Stück mache, sieht schon etwas anders aus, als der, den sie mit ihrem vorherigen Bühnenpartner Oliver Mommsen getanzt hat (lacht). Als ich das Video von uns beiden gesehen habe, dachte ich: „Alter, was für ein Tanzbär bist du denn?“ Aber ich hab mir dann gesagt: „Ever ist kein professioneller Tänzer und der Tanz, den wir auf der Bühne tanzen, ist eigentlich nur ein Traum.“
Ingo Naujoks und „Let’s Dance“
Würden Sie bei einem Format wie „Let’s Dance“ mitmachen?
Nein. Auf gar keinen Fall.

Sie selbst kennen als Musiker und Schauspieler das grelle Licht. Gab es trotzdem dunkle Momente in Ihrem Leben, in denen Sie komplett einsam waren und von nichts und niemandem berührt werden wollten?
Ich bin ein großer Anhänger von George Steiner und dessen Buch „Warum Denken traurig macht“. Er beschreibt darin, dass Traurigkeit und Melancholie fest in den Genen des Menschen verankert sind und dabei helfen, Dinge zu überwinden. Das macht einen nicht so glücklich, dass man denkt: „Großartig, jetzt hab' ich's geschafft“, aber man hat's wenigstens geschafft. Ich würde behaupten: Ich bin ein teamkompatibler Mensch, aber kein Rudeltier.
Wie äußert sich das?
Es gibt durchaus Situationen, in denen ich nicht kommunizieren mag. Ich schreibe gerne Gedichte, manchmal höre ich Musik, setzte mir Kopfhörer auf, gehe so spazieren. Und dann fühle ich mich so, als könnte ich genauso gut singen, wie die Musiker, die ich da gerade höre, und ertappe mich beim lauten Singen.

Ingo Naujoks glaubt, dass es keine Berliner gibt
Haben Sie privat eigentlich viele Freunde?
Wenn es hart auf hart kommt, habe ich nur einen Freund und das ist meine Familie. Dazu zählen unbedingt mein Sohn und meine Tochter. Wir haben einen ganz besonderen Draht miteinander. Allein ihre Anwesenheit hilft mir die Begriffe Freundschaft und Liebe zu verstehen. Ich bin gerne allein, aber ich bin nicht einsam.
Sie leben weiter in Berlin. Dabei ziehen gerade immer mehr Kreative weg. Das Geld sitzt nicht mehr so locker. In Theatern und Kinos verbringen immer weniger Menschen ihre Zeit. Bedrückt Sie das nicht auch?
Ich bin nach Berlin gekommen, weil ich ein Angebot hatte, hier zu arbeiten. Nicht, weil ich mich hier ins Nachtleben stürzen wollte. Natürlich schätze ich die vielen Kinos, Theater und Restaurants. Aber am Ende kannst du doch immer nur auf einer Hochzeit tanzen. Ich bin auch nicht jemand, der seine Kreativität aus der Stadt zieht.

Was bedeutet Berlin für Sie?
Für mich ist Berlin ein Ort, an dem ich meine Arbeit machen kann. Und dann hab ich mich verliebt und hier eine Familie gegründet. Außerdem bin ich sowieso fest davon überzeugt, dass es keine Berliner gibt, sondern nur Kreuzberger, Charlottenburger, Wilmersdorfer. Berlin ist so groß, dass man eigentlich gar nicht sagen kann: „Ich bin Berliner.“
Wie hat die Stadt sich für Sie persönlich verändert – sagen wir, seit „Die Straßen von Berlin“?
Ich finde, Berlin ist ziemlich aggressiv geworden.
Fühlen Sie sich mit Ihrer Familie überall sicher?
Nein, auf gar keinen Fall. Leider projiziere ich meine eigenen Ängste auf meine Kinder. Ich versuche mich dabei zurückzuhalten, denn meine Mutter hat früher dasselbe mit mir gemacht und das hat mich ziemlich genervt.
Was müsste denn passieren, damit Sie für immer Tschüss sagen?
Wenn ich den Jackpot mit 15 Millionen gewänne, würde ich sagen: „Berlin, tschüss. Jetzt gehen meine Familie und ich für zwei Jahre auf Weltreise und dann sehen wir uns wieder.“
Die Fragen stellte Karim Mahmoud