Jedes Jahr sterben Menschen in Berlin. Auf der Straße. Mitten unter uns. Nicht immer, weil sie niemand bemerkt hätte. Oft trauen sich Passanten aber nicht, die Obdachlosen anzusprechen oder Hilfe zu holen. Dabei ist das wichtigste Motto des Kältebusses: „Gerne ansprechen und lieber einmal zu viel anrufen.“
Es ist diesig. Die Kälte feucht. Die Nacht lang. Wir suchen den Innenhof ab: „Schau in die dunklen Ecken ...“ murmelt Matthias Spreemann. Er hat geschulte Augen, seit sechs Jahren fährt er den Kältebus durch die Berliner Winternächte. Und tatsächlich. In einer dunklen Ecke kauert er. Der obdachlose Mann, um den sich Nachbarn sorgen, deswegen haben sie den Kältebus der Berliner Stadtmission angerufen. Er ist eingehüllt in eine Picknickdecke, mit farbenfrohen Blumen, und einen dünnen Schlafsack.
Kalt, kälter, am kältesten: Berliner, macht die Augen auf
Chris Ritter kniet sich vor den Mann. Guckt ihn in die Augen. „Können wir was für dich tun?“, fragt er. Seit mehreren Monaten hilft Chris ehrenamtlich. „Habt ihr Tee?“, antwortet der Mann, seine Stimme ist leise. „... mit drei Stück Zucker?“ fügt er hinzu.
Matthias überreicht den qualmenden Becher. Hunger hat er nicht. Das Angebot für eine zweite Isomatte oder einen weiteren Schlafsack lehnt er auch ab. Chris schenkt ihn einen Schokonikolaus. Sie plaudern ein wenig. Chris macht ihn mehrmals das Angebot, zu einer warmen Notunterkunft gebracht zu werden. Der Mann lehnt wieder dankend ab.

Beleuchtete Zimmerfenster sehen von der Straße besonders gemütlich aus. Irgendwo kocht jemand eine herzhafte Mahlzeit, es riecht nach Lasagne, weiter weg hört man Musik und einen Fernseher. Es ist kurz vor Mitternacht.
Dann lassen wir ihn zurück, in der dunklen Ecke. Im Bus: „... Natürlich macht man sich Sorgen, aber will er nicht, dann ist das so“ Matthias zuckt mit den Schultern und guckt nochmals über die Schulter. Manche Obdachlose lehnen die Hilfe ab, weil sie ihre Lager nicht aufgeben wollen oder misstrauisch sind. „Bis jetzt ist der Winter nicht so schlimm kalt, die Leute kommen eigentlich ganz gut zurecht“, erzählt Matthias.
Vom 1. November eines jeden Jahres bis zum darauffolgenden 31. März sucht der Kältebus mit seinem Team nach hilflosen Wohnungslosen, die nicht mehr aus eigener Kraft eine Kälte-Notübernachtung aufsuchen können. Das Kältebusteam sucht die Wohnungslosen auf der Straße auf und fährt sie auf ihren Wunsch zu einem sicheren Übernachtungsplatz – diese Initiative gibt es bereits seit 25 Jahren.

Ist derjenige gar nicht mehr ansprechbar, dann bitte nicht den Kältebus, sondern gleich einen Krankenwagen rufen: 112.
Der Kältebus fährt zwischen dem 1. November und 31. März, Sie erreichen ihn in der Zeit von 20:00 bis 02:00
Habe Sie schon mal versucht, in Berlin im Januar draußen zu übernachten?
Ab zum nächsten Einsatz – es gibt viel zu viele, die Hilfe brauchen. Die Temperaturen sind bereits auf minus 2 Grad gesunken. Heiße Luft kommt aus dem Gebläse. In so einer Winternacht kann Berlin so trostlos wirken. Um die 30 Obdachlose bringen die zwei Kältebusse, die heute im Einsatz sind, an wärmere Plätze – nur ein Bruchteil aller Bedürftigen dieser Stadt. „Wir glauben, dass es weit über 2000 Obdachlose in Berlin gibt.“ Niemand weiß es genau.
Aber jetzt mal von vorne: Eigentlich fing der Abend in der Seydlitzstraße an. Wir treffen uns um kurz vor acht Uhr. Matthias und Chris beladen den Bus. Heißes Wasser für Getränke und Nudeln. Schlafsäcke, Isomatten, Mützen, Handschuhe und Süßigkeiten. Kleinigkeiten, die einen existenziellen Unterschied machen können in der bitterkalten Winternacht. Matthias schaut sich die Aufträge an. Mehrere haben sich bereits gemeldet, die wirklich Hilfe brauchen. „Die Uhr tickt ...“

„Die Uhr tickt ...“ – wie lange überlebt in der Kälte, wenn man aufgehört hat zu zittern?
Dann geht es los. Der Motor heult auf. Matthias behält die Aufträge im Blick, Chris fährt. Ein eingespieltes Team. Die Ecken und Bezirke von Berlin gut zu kennen, ist vom großen Vorteil. Noch ist viel los – Menschen der Stadt sind in Bars und auf den Straßen unterwegs. Irgendwie haben alle es eilig.
Bei einem Aldi wartet Ron. Er lächelt, kommt ans Autofenster: „Danke, danke das ihr kommt! Meine Glieder tun mir so weh.“ Den ganzen Tag saß er hier in der Winterkälte. „Die Leute, die hier einkaufen, kennen mich. Die sind gut zu mir“, erzählt er während er seine fünf Sachen ordentlich zusammenpackt. Besonders freut er sich, wenn kleine Spenden für ein warmes Würstchen oder ein Käffchen reichen. „Er ist nüchtern, das macht es einfacher eine Notunterkunft für die Nacht zu finden.“
Er kommt aus Brandenburg, aber lebt schon seit vielen Jahren in Berlin, dann ein Schicksalsschlag und nun wohnt er seit ein paar Monaten auf der Straße: „Ick will nich auf der Straße bleiben, bald wird sich allet wieda ändern.“ Die Hilfe des Kältebusses weiß er sehr zu schätzen. Er klettert in den Bus – wir fahren Richtung Notunterkunft, mit Ron auf der Rückbank. Ron hat eigentlich einen anderen Namen. Er freut sich, dass er noch einen warmen Platz für die Nacht bekommen hat. Angekommen in der Notunterkunft: „Moin“, grüßt Ron das Personal freudig, er kennt den Weg. Wir verabschieden uns.
Obdachloser Berliner: „Ick will nich auf der Straße bleiben, bald wird sich allet wieda ändern.“
An einem U-Bahnhof treffen wir auf ein jüngeres Pärchen. „Sechs Stück Zucker im Kaffee bitte“, die junge Frau lacht ein wenig beschämt. Oft bedeutet dieser Zucker-Hunger, dass sie Drogen genommen haben. Chris und Matthias ist das egal, sie bekommen so viel Zucker wie sie wollen, Hauptsache das Frieren lässt nach. Sie helfen den zwei ins Auto, tragen die Taschen. Die Stimmung ist dennoch munter, es wird gescherzt. Auf dem Weg sammeln wir auch einen Mann auf, der auf seinen Rollstuhl angewiesen ist. „Jetzt ist auch diese Notunterkunft voll ...“ stellt Matthias fest.
Nicht alle Geschichten enden so glimpflich wie diese. Matthias erinnert sich an einen Rollstuhlfahrer, der am S-Bahnhof Frankfurter Allee erfroren aufgefunden wurde. „Das vergisst man nicht. Viele von denen kennen wir über Jahre hinweg.“
Rollstuhlfahrer erfroren: „Das vergisst man nicht.“
Was sind die größten Herausforderungen? „Verhungern muss keiner in Berlin. Essen ist nicht das Problem. Aber ein warmes Bett! Es gibt nicht genügend Betten!“ erklärt Matthias. Um 23 Uhr sind die meisten Unterkünfte bereits voll. „Besonders hart trifft es Menschen mit Behinderungen“, erzählt Matthias. Es gibt nur zehn barrierefreie Plätze für Rollstuhlfahrer in ganz Berlin. Und selbst diese erfordern, dass die Person weitgehend mobil ist – für Menschen mit Pflegebedarf gibt es schlicht keine Kapazitäten. „Ausgerechnet die, die am meisten ausgeliefert sind …“ Die Umstände frustrieren ihn, er schüttelt den Kopf: „Wenn alle Unterkünfte voll sind, muss man den Leuten sagen, dass es keine Schlafplätze mehr gibt.“
Wir fahren durch das nächtliche Berlin, Aufträge gibt es viele, schaffen tun wir nicht einen Bruchteil. Die Kältehilfe Berlins hängt von Ehrenamtlichen ab. Zwei Hauptamtliche, darunter Matthias, koordinieren die drei Kältebusse, unterstützt von etwa 50 Freiwilligen. „Es ist schlimm, dass das System auf uns Ehrenamtlichen basiert“, sagt Chris. Er macht die Arbeit zwar sehr gern, „es erdet, zu helfen“, aber er fragt sich: „Was wäre, wenn wir es nicht machen würden?“
„Wenn Sie einen Obdachlosen sehen, fragen Sie, ob er Hilfe möchte.“
Beim nächsten Auftrag, beim RAW-Gelände, treffen wir auf einen gestrandeten Touristen. Er erzählt, was ihm zugestoßen ist, was alles schiefgelaufen ist die letzten Wochen. Erschöpft lässt er sich auf der Rückbank des Kältebusses nieder. Matthias telefoniert herum, stets die Frage im Raum: wo gibt es noch einen Schlafplatz? Und ständig klingelt das Telefon mit neuen Aufträgen – der nächste Einsatz wird geplant, ist aber 27 Kilometer entfernt.

Wir bringen den Touristen zur Notübernachtung am Containerbahnhof – diese ist ganzjährig geöffnet, es gibt 70 Betten. Die Notunterkunft ist ein Integrales-Sozialprogramm, aber kein Teil der Kältehilfe. Ester Lehmann empfängt den Touristen – zeigt ihn sein Bett. Hier gibt es beispielsweise Zahnbürsten, Einwegrasierer, Klamotten, Essen und medizinische Betreuung sowie Sozialberatung und seelischen Beistand.
Zurück im Bus die freudige Nachricht: Anwohner haben sich um den Obdachlosen gekümmert, für den wir bestimmt 30 Minuten unterwegs gewesen wären. „Wir kümmern uns um die einzelnen, wir kümmern uns um die, die weiter weg sind vom Stadtzentrum, die außen vor bleiben“ erklärt Chris.
In dieser Nacht wurden noch viele weitere zu Notunterkünften gebracht. „Wenn sie nicht mehr zittern vor Kälte, dann ist es allerhöchste Zeit. Ich würde mir wünschen, dass wir alle mit mehr Bewusstsein Obdachlose wahrnehmen würden ...“ sagt Chris.
Das Team des Kältebusses hat eine klare Botschaft: „Wenn Sie einen Obdachlosen sehen, fragen Sie, ob er Hilfe möchte. Reden Sie mit den Menschen.“ Und wenn jemand nicht ansprechbar ist, zögern Sie nicht, 112 zu rufen. Jede helfende Hand, jedes Gespräch könnte Leben retten.