Beim Abbiegen überrollt

Ein Monat Fahrverbot für getöteten Radfahrer – jetzt geht der Täter in Berufung

Bei einem tragischen Unfall vor zwei Jahren stirbt Matthias Trost unter einem Lkw. Der Täter erhält ein mildes Urteil und ist dennoch nicht zufrieden. Während er nun in Berufung geht, kämpft die Familie des Opfers jeden Tag um ein normales Leben. 

Author - Stefanie Hildebrandt
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Matthias war ein fröhlicher, positiver Mensch. Kurz vor seinem Tod feierte er mit seiner Frau Petra silberne Hochzeit.  
Matthias war ein fröhlicher, positiver Mensch. Kurz vor seinem Tod feierte er mit seiner Frau Petra silberne Hochzeit. privat

Tom und Annika sind 15 und 21 Jahre alt, als sie ihren Vater verlieren. Nur wenige Wochen zuvor haben ihre Mutter Petra und ihr Vater Matthias silberne Hochzeit gefeiert. Keiner ahnt bei dem Fest, zu dem alle Freunde und Verwandte gekommen sind, dass sie diese Stunden in der Rückschau wie einen Abschied von Matthias empfinden werden. 

Matthias Trost stirbt am 17. August 2022 mit 56 Jahren auf der Kreuzung Gotthardstraße / Ecke Teichstraße in Berlin-Reinickendorf. Auf dem Weg zur Arbeit als Controller in einem Immobilienunternehmen will er bei Grün auf dem Radweg geradeaus fahren, ein Lkw biegt nach rechts ab und erfasst ihn. Erst touchiert das Fahrerhaus den Familienvater, dann überrollen ihn die Vorderräder des Dreiachsers, und ein zweites Mal die Hinterräder des  Lasters. Matthias ist sofort tot, darauf lassen seine schweren Kopfverletzungen schließen. 

Radfahrer getötet: ein Monat Fahrverbot und Geldstrafe

Der Fahrer des Lkw wird im April 2024 der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen und mit einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 50 Euro und einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt. Ein Wort des Bedauerns oder des Mitgefühls für die Familie des Getöteten findet er in den Monaten bis zum Prozess und auch während der Verhandlung nicht. 

Täter geht in Berufung gegen sein Urteil

Stattdessen wird Petra Trost dem Täter an diesem Montag erneut vor Gericht begegnen. Der Mann hat Berufung gegen sein mildes Urteil eingelegt, und reißt damit die Familie des Opfers erneut in einen Strudel aus Trauer und Nichtverstehen. 

„Ich will nicht in die Wut kommen“, sagt Petra Trost in einem Kaffeehaus in Frohnau. „Wenn man wütend ist, kann man nicht trauern.“ Nicht um die milde Strafe gehe es ihr, sondern darum, zu erzählen, was es mit den Hinterbliebenen macht, wenn sie kein Mitgefühl vom Täter erfahren und auch von den Behörden allein gelassen werden. Wie sehr unbedachte Äußerungen nach einem solch heftigen Verlust schmerzen – und wie gut dagegen Verständnis und Mitgefühl auch von Fremden tun. 

Zu Petra Trosts Füßen liegt Snoopy, ein Jack Russell Terrier. „Matthias liebte die Peanuts“, sagt sie. Nach seinem Tod ist der Hund ihr ständiger Begleiter. 

Dunkle Ahnungen und eine ungehörte Warnung

Petra Trost erinnert sich an die Ereignisse vor zwei Jahren als wären sie gestern geschehen. Schon in der Nacht vor dem tragischen Unfall ist Petra Trost unruhig. Sie steht auf, fotografiert den Mond, der so intensiv am Nachthimmel scheint und bittet ihren Mann am nächsten Morgen, heute lieber nicht mit dem Rad zu fahren. Doch Matthias, mit seiner fröhlichen und unbeschwerten Art, wischt Petras Bedenken mit einem flotten Spruch beiseite. Seit der Corona-Pandemie hat er das Radfahren wieder für sich entdeckt, sein altes Rad wieder flottgemacht. Immer, wenn er auf der Arbeit angekommen ist, gibt er ihr Bescheid.

An der Kreuzung Gotthardstraße / Teichstraße kommt es zu dem folgenschweren Zusammenstoß. Der Lkw überrollt Matthias zweimal. 
An der Kreuzung Gotthardstraße / Teichstraße kommt es zu dem folgenschweren Zusammenstoß. Der Lkw überrollt Matthias zweimal. Olaf Wagner

An diesem Morgen wartet Petra Trost ganz in der Nähe des Unfallorts bei einem Arzttermin mit dem Sohn auf die Nachricht. „Ich habe gespürt, dass etwas nicht stimmt“, sagt Petra Trost. Währenddessen klingeln Polizeibeamte schon bei der Tochter zu Hause Sturm. Als Petra Trost erst auf dem Polizeirevier erfährt, was passiert ist, will sie nur noch nach Hause, wo eine selbst völlig aufgelöste Seelsorgerin und die Tochter sie erwarten. „War ihr Mann Metzger?“, hat eine unbedarfte Polizistin sie da gerade noch angesichts des Blutes gefragt. Die überforderte Seelsorgerin nötigt der geschockten Tochter Süßigkeiten auf, wie einem kleinen Kind. Surreal. So beginnt das Leben ohne Matthias, von dem sie noch heute manchmal sagen: Das ist nicht unser Leben. 

„Jeden Morgen wacht man auf und sagt sich, das kann nicht stimmen.  Der Schmerz über den Verlust wird bohrender, nicht weniger. Besonders jetzt, wo die Berufung alles wieder aufwühlt“, sagt Petra Trost. 

Oliven und Thymian auf dem Grab

Vor dem Unfall hatten sie Pläne geschmiedet, wollten mit einem alten Bulli nach Italien fahren, um ihre Silberhochzeit zu feiern. „Matthias liebte Italien“, sagt Petra Trost. Er hat italienisch gekocht und Brot gebacken, um vom Zahlenjob abzuschalten. Jetzt wächst auf seinem Grab ein Olivenbaum, Thymian und Rosmarin. Weil er mit seinem Sohn so oft mit Holz baute, beginnt Tom gerade eine Tischlerlehre. 

Es ist greifbar, wie sehr Matthias fort und doch da ist, im Leben seiner Familie. 

Für den damals 15-jährigen Sohn ist gleich nach dem Unfall klar, der Fahrer muss ins Gefängnis, er hat Papa getötet. Doch so schnell arbeitet die Berliner Justiz nicht. Erst im April 2024, also fast zwei Jahre nach dem Unfall, fällt das milde Urteil. 

An der Unfallstelle erinnert ein Geisterrad des ADFC an Matthias. Er ist in dem Jahr der sechste getötet Radfahrer. 
An der Unfallstelle erinnert ein Geisterrad des ADFC an Matthias. Er ist in dem Jahr der sechste getötet Radfahrer. ADFC Berlin / Joachim Westphal

Der Lkw-Fahrer ist Vater von mehreren Kindern, soziale Umstände werden beim Strafmaß berücksichtigt. Immer wieder beruft sich der Fahrer darauf, er habe nichts gesehen, sei sich keiner Schuld bewusst. Schon in der Vorbesprechung fordert der Staatsanwalt eine Mitschuld des Radfahrers, im Gerichtssaal kanzelt er die Witwe so barsch ab, dass er vom Richter gerügt wird. 

Es sind diese kleinen Stiche, die den Hinterbliebenen, die sich Zeichen des Mitgefühls wünschen, zusetzen. So will Petra Trost etwa das Unfall-Rad ihres Mannes gern zurück, ein Polizist sagt ihr, es sei längst vernichtet. Während des Gerichtsverfahrens taucht es als Beweisstück doch wieder auf.

Petra Trost möchte den geschundenen Körper ihres Mannes ein letztes Mal sehen, das sei unmöglich, sagt man in der Gerichtsmedizin. Erst die Bestatter machen den Herzenswunsch möglich und helfen damit, dass Abschiednehmen und Heilung stattfinden kann.

Psychologen für Opfer? Wie Goldstaub in Berlin

Bei der Krankenkasse verweist man sie hingegen auf Eigeninitiative, als sie nach psychologischer Hilfe fragt. Beim Weißen Ring heißt es: „Psychologen? Goldstaub in Berlin.“

Für eine Reha oder Kur funktionieren Petra Trost und ihre Kinder nach außen hin noch zu gut. Durch Panikattacken atmet sie sich mit der Tochter. Vier Ordner füllen die Briefe an Versicherungen und Rentenkassen mittlerweile. „Ohne Hilfe von Freunden und Familie hätte ich das alles nicht geschafft“, sagt Petra Trost. 

Am Montag wird sie vor Gericht wieder den Blick des Fahrers suchen und nicht verstehen, wie er sein Urteil anfechten kann. Sie wird im Stillen dem Täter die Frage nach Anstand und Gewissen stellen. Der Fahrer ist und bleibt Teil ihres weiteren Lebens. So wie Matthias Teil dessen Lebens bleiben wird. 

Auch wenn der Fahrer am Montag bei der Berufungsverhandlung nur gewinnen kann – wird sein Gesuch abgelehnt, gilt das alte Urteil – seine Unschuld hat er schon verloren: am Morgen des 17. August 2022. ■