Flucht aus der DDR

Der Ikarus von Pankow: Todesflug nach West-Berlin

Winfried Freudenberg starb am 8. März 1989 nach einer missglückten Flucht mit einem selbst entworfenen Ballon aus Berlin-Blankenburg. Die tragische Geschichte des letzten Mauertoten von Berlin.

Author - Stefanie Hildebrandt
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Ausweisfoto des DDR-Bürgers Winfried Freudenberg, der am 8. März 1989 im West-Berliner Bezirk Zehlendorf tot aufgefunden wurde.
Ausweisfoto des DDR-Bürgers Winfried Freudenberg, der am 8. März 1989 im West-Berliner Bezirk Zehlendorf tot aufgefunden wurde.dpa

Für die Nacht vom 7. auf den 8. März 1989 sagt der Wetterbericht leichten Wind in Richtung West voraus. Es ist alles vorbereitet, in der Christburger Straße 41 in Prenzlauer Berg laden Winfried Freudenberg und seine Frau Sabine den Trabant voll. Zweimal fahren sie von ihrer Zweiraumwohnung in der Dunkelheit zu einer abgelegenen Kleingartenkolonie in Pankow, genauer Blankenburg. In der ersten Fuhre transportieren sie den Ballon, den sie in den vergangenen Monaten selber gebaut haben, in der zweiten persönliche Gegenstände.

Ihr Ziel: ein Häuschen in der Schäferstege 14 in Berlin-Blankenburg. Noch heute befindet sich hier der rote Backsteinbau, der damals eine Gaspumpstation des VEB Energiekombinats Berlin beherbergte. Das Haus steht leer, der Zaun davor ist derselbe wie damals.

An einem sonnigen Tag Ende Februar treffen wir vor dem Zaun drei Männer, die das Schicksal Winfried Freudenbergs bis heute bewegt. Sören Marotz, Ausstellungsleiter des DDR-Museums, Alexander Schmid, der seinen Fall akribisch recherchierte und ein Hörspiel sowie ein Theaterstück daraus entwickelte, und Andreas Wendt, der Sprecher der NBB Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg. Sie sind hier, um an den letzten Berliner Mauertoten zu erinnern und seine Geschichte zu erzählen.

Sprecher der NBB Netzgesellschaft Andreas Wendt, Alexander Schmid und der Ausstellungsleiter des DDR-Museums Sören Marotz  vor der Gasregelstation in der Schäferstege 14 in Pankow-Blankenburg
Sprecher der NBB Netzgesellschaft Andreas Wendt, Alexander Schmid und der Ausstellungsleiter des DDR-Museums Sören Marotz vor der Gasregelstation in der Schäferstege 14 in Pankow-BlankenburgEmmanuele Contini

Winfried

Winfried Freudenberg ist Ingenieur in der DDR, seit einem halben Jahr ist er mit einer jungen Chemikerin, Sabine, verheiratet. 1989 will er raus aus der Enge des schon sterbenden Landes. Beim Geburtstag einer Tante im letzten Jahr hat er sich in Bad Pyrmont schon nach Arbeitsmöglichkeiten im Westen umgesehen. Doch er kehrt in den Osten zurück, um mit Sabine gemeinsam in ein neues Leben aufzubrechen. Ein Wissenschaftler, der in Freiheit seine Möglichkeiten ausprobieren will, ein Daniel Düsentrieb, ein Tüftler. Winnie Wahnsinn – den Spitznamen gab man ihm wohl erst nach seiner tragisch missglückten Flucht.

Die Flucht

Mit einer blauen Rohrzange öffnet Winfried, der sich extra beim VEB Energiekombinat hat anstellen lassen, um Zugang zu einer Karte mit Gasregelwerken zu erhalten, einen der Regler in dem Backsteinhäuschen im Norden Pankows. Erdgas strömt in den Ballon, den er Nacht für Nacht mit seiner Frau in der Wohnung aus Folienstreifen zusammengeklebt hat.

Das Folien-Monstrum haben sie mit einem Abschleppseil an den Gartenzaun neben dem Backsteinhäuschen gebunden. Stetig füllt sich das 13 Meter hohe Gebilde mit elf Metern Durchmesser mit Gas. Als Sitzstange hat das Paar einen Besenstiel mit Gurten unten am Ballon befestigt. Taschen mit Sand und persönlichen Gegenständen hängen an dem Stiel und dienen auch dazu, den Ballon zu beschweren.

Berlin-Karte mit der Route, die Winfried Freudenberg mit seinem Ballon nahm.
Berlin-Karte mit der Route, die Winfried Freudenberg mit seinem Ballon nahm.Emmanuele Contini

Sören Marotz hat ein Folienschweißgerät aus DDR-Produktion mitgebracht. So eines hat auch Winfried Freudenberg für seinen Plan verwendet. Die Folien hatten er und seine Frau in kleinen Mengen besorgt. „Wenn es etwas ausreichend in der DDR gab, dann Folien“, sagt Sören Marotz. Normalerweise sei die milchige Polyethylen-Folie als Gewächshausfolie verwendet worden. Freudenberg und seine Frau müssen in ihrer Wohnung mit einem ganzen Berg aus Folie gelebt haben, um den sie Packband als Verstärkung zu einem Netz knüpften. Der Ballon füllt sich in der Nacht auf den 8. März langsam, drei Stunden sind die beiden schon am Werk. „Heute wäre das bei den etwa 200 Gasregelstationen in Berlin und Brandenburg undenkbar“, sagt Andreas Wendt. Der Sprecher der NBB Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg verweist auf modernste Technik, die Druckabfall beim Gas sofort bemerken würde. 1989 im März aber läuft bis zu diesem Punkt alles nach Plan. 

Der Anruf

Als ein Hilfskellner auf dem Weg von der Arbeit nach Hause von der Bushaltestelle aus über die Hecken der Kleingartenanlage in Blankenburg schaut, sieht er in der Nacht, wie der halb aufgeblähte helle Ballon über den Hecken hin und her schwankt. Er alarmiert bei nächster Gelegenheit die Volkspolizei, die gegen 1.30 Uhr anrückt. Schon einmal, 1979, war DDR-Bürgern die Flucht mit einem Heißluftballon geglückt.

Winfried Freudenberg und seine Frau geraten in Panik, als sie die anrückende Polizei bemerken, der Ballon ist erst zur Hälfte gefüllt. In Voraussicht hatten die beiden das Vorhängeschloss am Gartentor wieder verschlossen, doch die Zeit drängt. Sabine und Winfried sind schon an der Sitzstange angegurtet.

Wagen wir es? Soll nur einer fliegen, bleiben wir beide hier? Die wenigen quälenden Minuten entscheiden über Leben und Tod. Sabine schneidet ihre Gurte durch, bei ihrer Flucht durch die Kleingärten wird sie später Ausweispapiere verlieren, die zu ihrer Verhaftung führen. Winfried aber kappt die Seilverbindung. Der junge Mann mit Vollbart und seine Frau sehen sich ein letztes Mal an. „Er machte einen hilflosen Eindruck“, sagt Sabine Freudenberg später über diesen Moment. Dann steigt der Ballon in den Himmel über Ost-Berlin. Zehn Kilometer entfernt von der Grenze, die auf den Karten als dünne lila Linie eingezeichnet ist.

Der Irrflug

Für Winfried beginnen nun fünf Stunden Irrflug am Himmel über dem geteilten Berlin. Weil der Ballon sich beim Steigen in einer Oberleitung verhakt und es Funkenflug und deutlich wahrnehmbaren Gasgeruch gibt, schießen die Volkspolizisten nicht auf den Flüchtenden, der sich auf den Besenstiel kauert und Richtung Westen driftet.

Der Wind trägt Freudenberg erst nach Westen, als er dann auf über 3000 Meter steigt, so rekonstruierten Meteorologen, gelangt er in andere Luftschichten und der Wind treibt ihn nach Süden über West-Berliner Stadtgebiet.

Gegen 7 Uhr fliegt Winfried Freudenberg über den Flughafen Tegel hinweg. „Den muss er erkannt haben“, sagt Alexander Schmid. Nur mit einer Lederjacke bekleidet muss es höllisch kalt in den großen Höhen gewesen sein. Doch Winfried bekommt den Ballon nicht auf den Boden. Die Konstruktion, mit der er Gas entweichen lassen will, funktioniert nicht. Der Ballon ist für zwei Menschen konzipiert und somit zu wenig beladen. Über dem Flughafen Tegel verliert Freudenberg eine Tasche und damit weiteren Ballast. Unmöglich, der rettenden Erde langsam näher zu kommen. Der Ballon gelangt in höhere Luftschichten und driftet nach Süden.

Der Mann auf dem Besenstiel – hat er bis zum Schluss gehofft, dass er doch noch im Westen landen kann?

Die Berliner Zeitungen berichten über den Absturz von Winfried Freudenberg mit seinem Ballon. Alexander Schmid kauft an dem Morgen alle Zeitungen und hebt sie auf.
Die Berliner Zeitungen berichten über den Absturz von Winfried Freudenberg mit seinem Ballon. Alexander Schmid kauft an dem Morgen alle Zeitungen und hebt sie auf.Emmanuele Contini

Als Winfried Freudenberg nach fünf Stunden in der Luft langsam, aber stetig wieder auf Ost-Gebiet um Potsdam zu driftet, muss er eine Entscheidung treffen. Ermittler glauben, dass er bei dem Versuch, an den Seilen zu dem Ballon über ihm zu klettern und die Hülle zu durchschneiden, in den Tod gestürzt sein könnte. 

Freudenbergs Leiche wird im Garten einer Villa in Zehlendorf im Gebüsch gefunden, er war beim Aufprall auf den Boden sofort tot. Die Ballonhülle verfängt sich in einem Baum an der Potsdamer Chaussee.

Die Recherche

„In den Taschen, die später gefunden werden, befanden sich Beruhigungstabletten, sieben Physik- und Chemielehrbücher, zehn Musikkassetten in einer Kassettenbox, darunter Dire Straits und Pink Floyd. Des Weiteren ein Transistorradio, eine Tube angebrochene Augensalbe und drei Ansichtskarten aus Leningrad“, erzählt Alexander Schmid, den der Fall Freudenberg nicht loslässt.

An der Absturzstelle in Zehlendorf ermittelt die West-Berliner Polizei.
An der Absturzstelle in Zehlendorf ermittelt die West-Berliner Polizei.Emmanuele Contini

Als junger Student in West-Berlin hat er in den Zeitungen von dem Ballon-Toten gelesen und den Fall dann zunächst nicht weiter verfolgt. 2014 beginnt er ausgiebig zu recherchieren, es entstehen ein Theaterstück, ein Hörspiel und ein Buch der Autorin Caroline Labusch, so wird einer der letzten Berliner Mauertoten einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Auch in einer Ausstellung des DDR-Museums 2021 wird die Geschichte des tragischen Helden erzählt.

Das Haus, in dem Winfried Freudenberg seinen Ballon mit Erdgas aus einer angezapften Leitung füllte und aufsteigen ließ, steht heute leer.
Das Haus, in dem Winfried Freudenberg seinen Ballon mit Erdgas aus einer angezapften Leitung füllte und aufsteigen ließ, steht heute leer.Emmanuele Contini

An der Schäferstege 14 erinnert nichts an die dramatischen Umstände, unter denen hier im März 1989, an einem der ersten Frühlingstage in einem Schicksalsjahr für Deutschland eine Flucht begann und nur wenig später tragisch endete. Nur fünf Monate später öffnete Ungarn die Grenzen für DDR-Bürger, acht Monate nach seiner Flucht hätte der Ikarus von Pankow mit der S-Bahn nach Zehlendorf fahren können.  ■