Dramatischer Hilferuf
Berliner Kindernotdienst: „Es fehlt nicht viel, und es gibt Tote“
Es ist ein Hilferuf, der seinesgleichen sucht! Die Mitarbeiter des Kindernotdienstes in Berlin sollen Kinder in Not schützen und stehen einem ausgelaugten System gegenüber.

Wie oft sollen sie noch Briefe schreiben? Wie oft sollen sie noch warnen? Die Mitarbeiter des Kindernotdienstes in Berlin sind verzweifelt. Sie sollen Kinder in Not schützen und stehen einem seit langem ausgelaugten System gegenüber, welches Kinder verwahrt, anstatt ihnen zu helfen. In einem eindringlichen Hilferuf (es ist nicht der erste) an Berlins Bürgermeister Kai Wegner und die Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Frau Katharina Günther Wünsch, schildern die Mitarbeiter die unhaltbaren Zustände in Berlin. Der KURIER dokumentiert den erschütternden Brief im Wortlaut:
Luise (12) in Freudenberg erstochen: DIESE neuen Details schockieren! +++ Wie werden Kinder eigentlich zu Killern? +++ Tatverdächtige Mädchen nicht mehr bei ihren Familien>>
Als im März in Freudenberg ein zwölfjähriges Kind von zwei anderen Kindern getötet wurde, war die Fassungslosigkeit überall groß – auch bei uns im Kindernotdienst Berlin. Wir sagen an dieser Stelle in aller Deutlichkeit, dass dazu nicht mehr viel fehlt. Niemand soll dann sagen, sie oder er habe nichts davon gewusst. Denn das, was hier passiert, ist eine Katastrophe mit Ansage.
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Was ist der Kindernotdienst in Berlin?
„Der Kindernotdienst ist die zentrale Kriseninterventions- und Inobhutnahmeeinrichtung des Landes Berlin. Familien in Krisen sollen hier rund um die Uhr und von Montag bis Sonntag ein Beratungsangebot erhalten. Der Kindernotdienst ist außerhalb der Öffnungszeiten der bezirklichen Jugendämter für die Abwendung akuter Kindeswohlgefährdungen im gesamten Stadtgebiet zuständig.
Gegenwärtig kann der Kindernotdienst diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. Somit wird das Land Berlin seiner gesetzlichen Garantenstellung im Kinderschutz nicht mehr gerecht. Seit Jahren existiert im Kindernotdienst eine zunehmende strukturelle Überlastung. Die Ursache liegt insbesondere in der viel zu langen Aufenthaltsdauer von Kindern mit besonderen Bedarfen, denen von der öffentlichen Jugendhilfe kein bedarfsgerechtes Angebot gemacht wird. Für die dauerhafte Betreuung dieser Kinder fehlt dem Kindernotdienst die räumliche, personelle und fachliche Ausstattung.
Kinder, die keiner will, werden aggressiv gegen sich und andere
Die genannten Kinder bleiben monatelang bei uns, während der Kindernotdienst strukturell nur auf eine Aufenthaltsdauer von wenigen Tagen ausgelegt ist. Infolgedessen kommt es unter unserem eigenen Dach regelmäßig zu neuen Kindeswohlgefährdungen, die abzuwenden unser eigentlicher Auftrag ist. Kinder mit schwersten seelischen Behinderungen, z.B. aufgrund von Traumatisierungen, die aufgrund von selbst- und/oder fremdgefährdendem Verhalten Psychopharmaka einnehmen müssen, sind von der monatelangen Dauer ihrer Aufenthalte zunehmend frustriert und verzweifelt.

Kinder bewaffnen sich, Security wird eingesetzt
Infolge dessen kommt es immer wieder zu Selbstverletzungen sowie zu körperlichen und mehrfach auch sexualisierten Übergriffen. Diese finden auch zum Nachteil von jüngeren schutzbedürftigen Kindern statt, die sich nach einer akuten Notsituation in der Obhut des Kindernotdienstes befinden. Einige der Kinder bewaffnen sich mit spitzen Gegenständen oder Messern, um sich vor Übergriffen zu schützen oder selbst welche zu begehen. Zum Schutz der Mitarbeitenden und anderen Kindern werden deshalb seit mehreren Monaten sogar Security-Mitarbeiter eingesetzt. Polizei und Rettungsdienste sind Dauergäste im Kindernotdienst.
Seit Jahren ist das Problem im Kinderschutz bekannt
Obwohl jahrelang von der Leitungsebene des Kindernotdienstes gegenüber dem Senat, den bezirklichen Jugendämtern und anderen Kooperationspartnern die Grenzen und Möglichkeiten des Kindernotdienstes und dessen gesetzlicher Auftrag hingewiesen wurde, haben sich die Verhältnisse in dieser Zeit nur immer weiter zugespitzt. Seit März 2022 wurden die zuständigen Stellen im Senat von Mitarbeitenden des Kindernotdienstes durch eine große Anzahl von Gefährdungs- und Überlastungsanzeigen auf die Situation aufmerksam gemacht. Es gibt Dutzende Vorfallsberichte bei der Heimaufsicht, die Vorfälle von körperlicher Gewalt gegenüber Kindern oder Mitarbeitenden, oder sexueller Gewalt unter Kindern dokumentieren.
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Nach ersten Warnrufen zielen vom Senat ergriffene Maßnahmen nur darauf, den Kindernotdienst an die vielen Eskalationen und die unverhältnismäßigen und rechtswidrig langen Aufenthalte anzupassen, kritisieren die Mitarbeiter.
Situation im Kindernotdienst ist nicht auszuhalten
Gegenwärtig tritt ein, wovor wir in Teamsitzungen, Gesprächen mit dem Senat, mit dem Personalrat und in Presse-Interviews gewarnt haben: Eine Situation die nicht auszuhalten ist, führt auf der einen Seite zu Krankheit, Rückzug, Selbstschutz, Resignation und auf der anderen Seite zu immer wiederkehrender eskalierender Gewalt gegen sich selbst und andere. Der beispiellos hohe Krankenstand im Kindernotdienst ist ein Zeugnis davon. Allein auf die neun Mitarbeitenden im Betreuungsbereich entfallen Stand Anfang Mai 1008,5 Überstunden.
Durch diese Überlast entstehen Personalausfälle, die durch die Mitarbeitenden der Beratungsstelle ausgeglichen werden müssen. Dadurch ist immer wieder die Beratungsstelle unterbesetzt. Ist diese nicht mehr arbeitsfähig, werden durch eine Telefonschaltung, die eigentlich als kurzfristige Lösung für akute Notfälle im Haus gedacht ist, alle Anrufe zum Jugendnotdienst weitergeleitet.

Mittlerweile muss diese Schaltung teilweise für ganze Tage und Nächte aktiviert werden. Der Druck wird so zu unseren Kolleginnen und Kollegen dort verlagert, die ihrerseits aber mit ganz ähnlichen strukturellen Problemen konfrontiert sind wie der Kindernotdienst.
Kinder werden in Berlin Monate im Notdienst geparkt
Wenn der (ehemalige) Berliner Senat in der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage und in Statements gegenüber den Medien lapidar sagt, die Drei-Tages-Regelung sei nicht immer einzuhalten, dann sollte er auch dazu sagen, was es für ein Kind bedeutet, Monate im Notdienst zu verbringen.
Zum Vergleich: Stellen Sie sich vor, Sie lägen vier Monate im Gang der Rettungsstelle eines Krankenhauses, die Diagnose ist längst klar, aber die Ärztin sagt Ihnen: ‚Sorry – es gibt keinen Platz auf Station‘ oder ‚Es tut uns leid, wir wissen, was Sie bräuchten, aber die Behandlung für Sie ist leider zu teuer.‘
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Jugendhilfe ist eine öffentliche Aufgabe. Kinder und Jugendliche haben Rechte, die ihnen aus dem Grundgesetz, der UN-Kinderrechtskonvention und dem Kinderund Jugendhilferecht (SGB VIII) erwachsen. Kinder haben das Recht auf eine ihrem Bedarf angemessene Hilfe. Aktuell gibt es für diese Kinder keine bedarfsgerechte Hilfe. Der Staat kann Teile dieser Aufgabe an freie Träger delegieren. Wenn die freie Jugendhilfe, wie derzeit, nicht willens oder in der Lage dazu ist, bedarfsgerechte Leistungen auch für Kinder mit erhöhten Hilfebedarfen zu erbringen, fällt diese Aufgabe zurück an den Staat.
Täglich neue Gewalterfahrung
Dies kann aber nicht bedeuten, dass ein Kindernotdienst mit zehn Betten dauerhaft als Außenstelle der Kinder- und Jugendpsychiatrie herhalten muss. Kurzfristige Aufenthalte von Kindern mit solchen Bedarfen sind Teil unseres Auftrags. Neben diesen Fällen kommt die eigentliche Aufgabe aber gegenwärtig unter die Räder. Das sind die Kinder, die in akuten Notsituationen unseren Schutz brauchen. Seien es Findelkinder, seien es Kinder, die häusliche Gewalt erlebt haben, Kinder die Opfer von körperlicher, seelischer oder sexueller Gewalt geworden sind, Kinder, die gerade durch Unfall, Krankheit, Suizid oder Femizid ihre Eltern verloren haben, oder Kinder, deren Familien sich vorübergehend nicht um sie kümmern können, etwa wegen Sucht, psychischen Erkrankungen oder Inhaftierung. Dies ist eine herausfordernde, aber wichtige Aufgabe.
Die Kinder, die zu ihrem Schutz zu uns kommen, haben es verdient, dass sie fachliche und empathische Mitarbeitende treffen. Niemals darf es dazu kommen, dass Kinder mit Gewalterfahrungen bei uns neue Gewalt erleben. Und doch geschieht dies täglich.“
Lesen Sie hier die Forderungen der Mitabeiter aus dem Kindernotdienst an die Politik.