Sie sitzen sich gegenüber, spielen zusammen auf ihrem Smartphone, lachen ausgelassen. Wer Max (12) und Lilly (11) so miteinander sieht, kann kaum glauben, was die beiden vor zwei Monaten erlebt haben. Am 22. Mai wurde der Grundschüler nach dem Sportunterricht in der Umkleidekabine von einem Mitschüler mit einem Messer attackiert. Zehn Mal stach er zu – und traf dabei Max in den Rücken und am Hals. Es ist dem mutigen Eingreifen seiner Klassenkameradin Lilly zu verdanken, dass Max heute über die Attacke selber erzählen kann. Dass er lebt.
Aber: Wie führt man mit zwei Teenagern ein Gespräch über so ein Trauma? Über eine Attacke, die Max beinahe das Leben kostete? Max und Lilly kannten sich schon vorher, sie wohnen im gleichen Spandauer Kiez. Doch seit der Tat sind sie enge Freunde geworden. Sie lachen, quasseln, verbringen fast jeden Tag zusammen. Auf Lillys Knie sitzt Max’ altes, buntes Stofftier-Einhorn – es heißt seit acht Jahren übrigens auch „Lilly“.
Im Gespräch mit dem Berliner KURIER hatte Max vor gut sechs Wochen zum ersten Mal selbst von dem Angriff erzählt. Dieses Mal ist auch Lilly dabei. Sie ist das Mädchen, das Max das Leben rettete.
Die Schülerin erinnert sich noch ganz genau an den Moment nach dem Sportunterricht, als sie auf dem Weg in die Mensa war: „Ich habe den Täter wegrennen sehen, ohne Ranzen. Ich wollte ihn noch rufen, weil er seine Sachen vergessen hatte. Zum Glück habe ich das nicht gemacht“, sagt Lilly.

Attacke in Spandauer Grundschule: „Messer direkt in den Rücken gestochen“
Dann hörte sie die Schreie von Max. Er taumelte bereits blutüberströmt aus der Umkleide und fiel vor der Sporthalle zu Boden. „Als ich ihn gesehen habe, bin ich zu ihm gerannt, habe mich hingekniet und ihm die Wunde am Hals zugehalten“, erinnert sich Lilly. „Dann habe ich nach Lehrern gerufen. Ich war die ganze Zeit bei ihm, bis der Rettungsdienst kam.“
Ob sie Angst hatte in dem Moment? Lilly schüttelt den Kopf. „Ich hatte Angst um Max. Aber nicht vor dem Blut. Ich wollte einfach nur, dass er nicht stirbt.“
Lilly drückte so fest auf die Wunde an seinem Hals, dass sie sich Sorgen machte, ob er überhaupt noch Luft bekommen kann. Woher wusste das Mädchen, was zu tun ist? Lilly: „Das habe ich mal im Fernsehen gesehen. Wenn viel Blut aus einer Wunde kommt, muss man’s halt stoppen.“ Während sie mit aller Kraft die Blutung aufhielt, sprach sie Maximilian Mut zu. „Ich hab ihm gesagt, dass alles gut wird. Ich wollte das in dem Moment auch glauben. Er hat irgendwas gemurmelt von ‚zu Papa'… 'Lilly, komm mit‘ oder so. Es war schwer zu verstehen.“ Lilly rief eine Lehrerin um Hilfe, die dann den Notruf wählte. Neun Minuten später war der Krankenwagen da. Neun Minuten, die sich anfühlten wie eine Ewigkeit.

Meine Hände waren voller Blut“ – Lilly rettete Max nach Messerattacke
Erst als der Rettungswagen mit Max Richtung Klinik fuhr, wird Lilly klar, was passiert ist. Sie zitterte. „Ich bin dann auf die Toilette in der Mensa gegangen und habe mir die blutigen Hände so oft gewaschen, dass die Haut sich gepellt hat.“ Sie stockt. „Ich sah überall nur Blut.“ Andere Schüler waren ebenfalls auf der Toilette. Alle weinten. Erst später beruhigten sich die Kinder. Im Mehrzweckraum versammelten sie sich zusammen mit Polizei, Lehrern und Feuerwehr. Der Täter war zu dem Zeitpunkt auf der Flucht und Max kämpfte auf einem Operationstisch um sein Leben.
Lilly sagt, dass einige Lehrer später behaupteten, sie sei gar nicht die erste Helferin gewesen. „Sie sagen, ich lüge.“ Dass Lehrer Max zuerst geholfen hätten. „Aber das stimmt nicht“. Sie wird still. „Es tut weh. Ich brauche keine Urkunde. Ich will nur gesehen werden. Und, dass jeder weiß, dass ich die Wahrheit sage.“ Max sitzt neben ihr, knistert mit einer Capri-Sonne-Packung. „Lilly war die Erste, ich habe es erlebt! Ich weiß, wer mir geholfen hat“, sagt Max.

In Berliner Schule: Junge (13) sticht in Umkleidekabine auf Mitschüler Max ein
Die erste Nacht nach der Attacke konnte Lilly kaum die Augen schließen. „Ich hab alles wieder und wieder erlebt. Die Träume sind immer gleich. Ich bin in der Turnhalle, und alle Menschen um mich herum sehen aus wie der Täter. Es ist immer wieder der gleiche.“ Auch Wochen nach dem Angriff schläft Lilly weiterhin schlecht. Was ihr hilft: „Ich rede viel mit Mama.“
Die Tatwaffe, ein Küchenmesser, wurde noch auf dem Schulgelände gefunden. Der Täter wurde in eine Kinderpsychiatrie eingewiesen. Er ist 13 Jahre alt. Also strafunmündig. Das Verfahren wurde deshalb eingestellt.

Max geht es heute schon viel besser. Sein Gesicht ist teilweise noch gelähmt. Mama Franziska: „Die Narbe unter dem Arm macht ihm Probleme. Und auch die anderen Wunden schmerzen noch.“ Sie schaut auf ihren Sohn, lächelt vorsichtig: „Die Prognosen sind gut, die körperlichen. Wie sehr die Tat seine Psyche weiterhin belastet? Wir wissen es noch nicht.“ Die Sommerferien stehen an. Max freut sich: „Endlich schulfrei und weg von dieser Schule.“