Manfred „Manne“ Moslehner soll seine Wohnung räumen. Volkmar Otto

Während man Gentrifizierung und den Protest dagegen oft in der Berliner Innenstadt verortet, sind die wahren Gallier in Reinickendorf zu finden. Seit 13 Jahren widersetzen sich hier mittlerweile hochbetagte Mieter in der kleinen Siedlung Am Steinberg der Modernisierung und damit dem Verlust ihrer Wohnungen und Häuser. Kleinkleckersdorf nennen sie die 38 Häuser, 18 von ihnen werden noch von den ursprünglichen Mietern bewohnt. Der Älteste von ihnen ist über 90 Jahre alt.

In Kleinkleckersdorf wurden die Mietshäuser mit etwa 80 Quadratmetern oft von einer Generation an die nächste weitergegeben. Hartmut Lenz, einer der Bewohner und so etwas wie der Sprecher der Mieter, erinnert sich noch daran: Seine Großeltern haben hier im Garten Bäumen, Sträucher und Kartoffeln gepflanzt. „So etwas gibt man doch nicht einfach so auf“, sagt er.

In seinem Vorgarten hat er Plakate aufgehängt. „Keinen Bock auf Luxus“ steht auf seinem Sweatshirt. Das Dorf der Gallier, wie die Mieterzeitung die Siedlung einmal nannte, ist über die Jahre professionell im Protestieren geworden und hat schon so manche Gerichtsentscheidung für sich gewonnen. 

Manfred wurde in dem Haus geboren, das er nun verlassen soll 

Und auch Manfred Moslehner, um den es an diesem Mittwoch geht, ist mit seinen 84 Jahren kampferprobt. Seit die Siedlung von der GSW an einen privaten Investor, die Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft mbH, verkauft wurde, fürchtet er wie die anderen um sein Zuhause. Mannes Eltern sind Erstmieter gewesen, als die Siedlung kurz nach dem Ersten Weltkrieg von der Gemeinde Tegel gebaut wurde. Einfacher und preisgünstiger Wohnraum für Invaliden, Witwen und andere Bedürftige sollte entstehen. Drum herum waren nichts als Felder. Heute ist die 1919/1920 durch den Berliner Architekten und Stadtbaumeister Ernst Hornig gebaute Siedlung so pittoresk und idyllisch, dass sich viel Geld mit dem Ensemble verdienen lässt.

Neben 62 Wohneinheiten in fünf Reihenhauszeilen sowie einem Doppelhaus entstanden auch drei Mehrfamilienhäuser. Jede Wohneinheit hat einen Garten, auch die Geschosswohnungen. Bis in die 1960er-Jahre wurde er vorwiegend zur Selbstversorgung genutzt. Bis Mitte der 1980er-Jahre wurde die landeseigene Siedlung vom Bezirk verwaltet, dann wurde sie an die GSW verkauft. Nach ihrer Privatisierung veräußerte die GSW die Siedlung.

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In dem Haus, vor dem Manfred Moslehner steht, wurde er auch geboren.  Volkmar Otto

Manne, wie sie ihn alle hier nennen, zeigt auf das Fenster, hinter dem er am 2. Oktober vor 84 Jahren geboren wurde. Zweiter Stock, hinter Zweigen. Seit dem Verkauf seien alle verunsichert, sagt er. Es habe Drohbriefe gegeben, Anwaltsschreiben und nun die Kündigung. Am 1. November soll er die „Mietsache“ geräumt übergeben, schon Ende September sei ein Vertreter der Vermieter bei ihm gewesen und habe nach den Schlüsseln gefragt.

„Ich kann doch keine neue Wohnung einrichten“, sagt Manfred Moslehner. Verwandte, die sich um ihn kümmern könnten, hat er nicht. Aber die Nachbarn schauen regelmäßig nach dem Rechten. Man hilft sich untereinander. Auch heute sind Nachbarn zu seiner Unterstützung gekommen, erkennbar an den roten Schals, die sie tragen. Jeder könnte der Nächste sein, auf den sich die Zermürbungstaktik der Vermieter einschießt. 

Der Vermieter will seit Jahren modernisieren 

Heute, mit 84 Jahren, würde Manfred Moslehner wegen seines Alters Bestandschutz genießen. Doch weil sich die Modernisierungsarie schon über ein Jahrzehnt hinzieht, gilt der Schutz für ihn nicht. Warum warten sie nicht ab, fragen sich die Anwohner, keiner hier lebt ja ewig.

Manfred Moslehner mit dem grauen Bart würde gern hier seinen Lebensabend verbringen, wo sein soziales Netz ist. Wo er mit dem Rad zu Norma fahren kann, wo es so idyllisch sein könnte, wie die Straßennamen klingen: Am Brunnen, Myrtenweg, Am Rosensteg.

So sehen die Häuser in der Berliner Steinberg-Siedlung aus, nachdem sie modernisiert wurden. Man kann sie für viel Geld kaufen. Volkmar Otto

Doch die Häuser aufgemotzt mit Terrasse, Wintergarten, Fußbodenheizung und Kamin für etwa eine Million Euro zu verkaufen, ist lukrativer, als sich menschliche Werte zu leisten. Die paar Hundert Piepen, die die alten Mieter zahlen, rentieren sich einfach nicht.

Die Mieter hier wissen, wenn sie für die Sanierung ihrer Häuser in die angebotenen Ausweichwohnungen umziehen, werden sie niemals zurückzukehren. Die neue Miete, die viermal so hoch wäre, kann sich hier kaum einer der Alten leisten. Und selbst im Bezirk ist man wohl erpicht darauf, dass junge Gutverdiener den Bezirk aufwerten, so haben es die Rat suchenden alten Mieter im Rathaus gehört.

Protest seit vielen Jahren: Hartmut Lenz und Mieter in 18 weiteren Häusern wollen nicht kampflos weichen.  Volkmar Otto

Von allen Seiten umzingelt trotzen sie dennoch den Versuchen, sie zu vertreiben. „Ich habe einen gültigen Mietvertrag“, sagt Hartmut Lenz. „Der Eigentümer will nicht gewinnen, sondern uns vergraulen“, so Lenz. Einige Mieter seien bereits ausgezogen, andere verstorben. „All die Jahre mit an den Haaren herbeigezogenen Abmahnungen, Kündigungen und Gerichtsterminen zerren an den Nerven, viele halten diese Belastung nicht mehr aus.“

Auch Manne Moslehner hat die Nacht vor dem Tag, an dem er seine Wohnung übergeben soll, nicht geschlafen. Was er sich wünscht? „Dass endlich Ruhe einkehrt.“ Und dass er seine letzten Jahre dort verbringen darf, wo seine Wurzeln sind. ■

Keiner steht hier allein: Die Nachbarn solidarisieren sich mit Manfred, dem die Räumung droht.  Volkmar Otto