Die Auswahl von Bundestrainer Julian Nagelsmann gewann am Freitagabend in München mit 5:1 (3:0) gegen Schottland. Es war der deutsche höchste Sieg in einem EM-Spiel. Das Tor für die Schotten schoss unfreiwillig ein deutscher Spieler.
Die deutsche Mannschaft übernahm direkt das Kommando. Nicht einmal eine Minute war gespielt, als Wirtz in allerdings abseitsverdächtiger Position erstmals den schottischen Torhüter Angus Gunn prüfte. Schnelles Kurzpassspiel, frühes Pressing, hohe Ballbesitzanteile - das DFB-Team war direkt auf Betriebstemperatur.
Und es gelang der erhoffte frühe Treffer. So wie 2006, als Philipp Lahm bereits nach sechs Minuten gegen Costa Rica den Startschuss zum Sommermärchen gab. Dieses Mal war es nach zehn Minuten so weit. Über Kroos, den genialen Lenker im Mittelfeld, und Joshua Kimmich kam Wirtz zum Schuss, Gunn kam nur noch mit den Fingerspitzen an den Ball. Bundestrainer Nagelsmann, der vor dem Spiel noch ein wenig Nervosität eingeräumt hatte, feierte das Tor mit einem Jubellauf. „Die sind heiß, die haben Lust, die haben Hunger“, hatte der jüngste deutsche Turnier-Trainer angekündigt - und Recht behalten.
Der deutsche Hochgeschwindigkeitsfußball ließ den lautstarken schottischen Anhang ein wenig verstummen. 10.000 Fans der Tartan Army waren im Stadion, mehr als 100.000 Schotten in der Stadt. Und die waren vollends bedient, als auch der zweite Zauberer im deutschen Team traf. Nach feinem Zuspiel von Havertz setzte Musiala den Ball in die Maschen, vorausgegangen war ein Traumpass von Gündogan.
„Oh, wie ist das schön!“-Gesänge von den Rängen
Die gesamte deutsche Bank sprang auf und applaudierte, was auch den Zusammenhalt dokumentierte. Und von den Rängen schallte es nach nur 21 Minuten: „Oh, wie ist das schön!“ Glücksgefühle, auf die die von drei schmachvollen Turnieren gebeutelten deutschen Fans lange warten mussten. Mitte der ersten Halbzeit schien gar das dritte deutsche Tor greifbar, als der französische Schiedsrichter Clément Turpin auf den Punkt zeigte. Das Foul an Musiala war aber außerhalb des Strafraums, sodass der Video-Referee intervenierte.
Den Elfmeter gab es aber doch noch - mit Verspätung. Kurz vor der Pause, als Gündogan zum Nachschuss ansetzen wollte, wurde er rüde von Porteous von den Beinen geholt. Eine Szene, die zunächst Schlimmstes für den deutschen Kapitän zu befürchten ließ. Folgerichtig flog der Schotte nach kurzem Videostudium vom Platz, und Havertz ließ sich die Chance nicht nehmen. Welch ein Gala-Auftritt der Nagelsmann-Elf zum EM-Start. Zum ersten Mal erzielte das DFB-Team in der ersten Halbzeit bei einer Europameisterschaft drei Tore. Die vielen Rückschläge und Niederlagen aus der Vergangenheit waren mit einem Schlag vergessen.
In Überzahl hatte die deutsche Mannschaft von den ohnehin harmlosen Schotten nichts mehr zu befürchten. Rüdiger (51.), Wirtz (58.), der nun jüngster deutsche EM-Torschütze ist, und Maximilian Mittelstädt (65.) besaßen weitere gute Gelegenheiten. Das konnte für die Bravehearts nicht lange gut gehen - ging es auch nicht. Joker Füllkrug, der für Wirtz ins Spiel kam, wuchtete den Ball ins obere Toreck. Danach durfte auch Routinier und Fan-Liebling Thomas Müller vor heimischer Kulisse ran. Auf sein erstes EM-Tor muss der Münchner trotz guter Kopfball-Chance (80.) aber weiter warten. Der ausgelassenen Party-Stimmung machte dies keinem Abbruch - auch nicht das unglückliche Eigentor von Abwehrchef Rüdiger. Der gerade erst nachnominierte Can setzt gar noch den Schlusspunkt.
Wichtiges Sieg-Signal im ersten Spiel - wie bei der Heim-WM 2006
„Wir wollten logischerweise gut starten, das haben wir gemacht. Schottland nie ins Spiel kommen lassen und souverän gewonnen. Wir haben uns belohnt für eine gute Anfangsphase. Das gibt einer Mannschaft beim ersten Spiel einer Heim-EM auch Selbstvertrauen. Dazu war der Gegner natürlich auch nicht in Topform, spätestens nach der Roten Karte war es entschieden“, sagte Toni Kroos bei MagentaTV.
Mit schnellen Kombinationen und dem lange vermissten Tor-Punch gelang der DFB-Elf nach drei Turnierstartpleiten wieder das wichtige Sieg-Signal im ersten Spiel - wie bei der Heim-WM 2006. Energisch angetrieben und taktisch perfekt eingestellt von Bundestrainer Julian Nagelsmann zeigten Kapitän Gündogan und seine Kollegen, dass sie dem großen Gastgeber-Druck standhalten können.
Am Mittwoch in Stuttgart ist mit einem weiteren Erfolg im zweiten Turnierspiel gegen Ungarn sogar schon der Einzug ins Achtelfinale möglich - allerdings dürfte der Gegner dann viel mehr Gegenwehr leisten als die vom deutschen Powerfußball geschockten Schotten.
Vor dem Anpfiff hatte Franz Beckenbauers Witwe Heidi den silbernen Henri-Delaunay-Pokal auf den Rasen der Münchner Arena gebracht. Bevor sie den Platz wieder verließ, warf sie einen Kuss Richtung Himmel. Beckenbauer war am 7. Januar im Alter von 78 Jahren gestorben.
Am Samstag, dem zweiten Tag der EM, geht es mit drei Partien weiter. Die beiden kommenden deutschen Gruppengegner aus Ungarn und der Schweiz treffen am Nachmittag (15.00 Uhr/MagentaTV) in Köln aufeinander. Im Anschluss (18.00 Uhr/ARD/MagentaTV) spielt Mitfavorit Spanien in Berlin gegen den WM-Dritten Kroatien um Routinier Luka Modric. Am Abend (21.00 Uhr/ARD/MagentaTV) ist dann Titelverteidiger Italien in Dortmund gegen Außenseiter Albanien gefordert.
Die deutschen Spieler in der Einzelkritik
Neuer: Deutschlands ewiger Turniertorwart patzte diesmal nicht. Der 38-Jährige war in seinem Münchner Fußball-Wohnzimmer lange arbeitslos und dann chancenlos beim Eigentor von Rüdiger.
Kimmich: Auch als rechter Verteidiger kann man einiges bewirken. Der Münchner war der wichtige Vorlagengeber für Wirtz beim 1:0. Defensiv kaum gefordert, offensiv sehr aktiv.
Rüdiger: Gegen den Champions-League-Sieger von Real Madrid war für die schottischen Angreifer im Zweikampf nichts zu holen. Strammer Distanzschuss (51.), ein ärgerliches Eigentor kurz vor Spielende.
Tah: Erster Turniereinsatz mit 28. Verteidigte robust gegen Adams. Agierte im Abwehrzentrum so zuverlässig und stark wie in der Leverkusener Double-Saison.
Mittelstädt: Vor einem Jahr stieg er mit Hertha in die 2. Liga ab. Und jetzt? Ist er nach einer starken Saison beim VfB Stuttgart ist er die Lösung auf der Problemposition hinten links.
Andrich: Der Mann fürs Grobe im Mittelfeld. Suchte förmlich jeden Körperkontakt mit den Schotten. Gleich verwarnt. Ohne Gelb-Sperre wird er kaum durch das Turnier kommen.
Kroos: Der Mann fürs Feine. Sein Comeback ist ein Glücksfall für das DFB-Team. Leitete mit einem langen Ball auf Kimmich das 1:0 ein. Ruhepuls am Ball, immer Herr des Geschehens.
Musiala: Eine Augenweide. Umdribbelte die Gegenspieler wie Slalomstangen. Und anders als noch bei der WM 2022 auch effektiv. Schloss beim 2:0 wuchtig und überlegt ab.
Gündogan: Viel wurde vorher über den Kapitän diskutiert. Zum EM-Start war er voll da. Leitete das 2:0 mit einem Traumpass ein. Starker Kopfball, holte Elfmeter und Rot raus.
Wirtz: Erstes Turnierspiel, erstes Tor: Der junge Zauberer eröffnete den Torreigen in der 10. Minute. Nach der Pause zielte er einmal zu hoch (57.). Ein verheißungsvoller EM-Einstand.
Havertz: Kein klassischer Neuner, aber ein wertvoller. Große Übersicht im Strafraum beim Pass auf Torschütze Musiala. Und auch bei seinem ersten Elfmetertor ganz abgeklärt.
Groß: Kam zur Pause für den verwarnten Andrich. Ein Abräumer der etwas feineren Art. Der Brighton-Profi fügte sich nahtlos ein.
Füllkrug: Der klassische Mittelstürmer löste Havertz ab (63.). Fünf Minuten später hämmerte der Dortmunder den Ball volley ins Tor. Topquote: Zwölfter Treffer im 17. Länderspiel.
Sané: Kam für Wirtz und schoss beim ersten Ballkontakt, aber zu schwach (64.). Schoss später nochmal wuchtig (86.). Wird vorerst Einwechselspieler bleiben.
Müller: Der Turnier-Veteran wurde mit „Thomas Müller“-Rufen von den Fans empfangen, als er für den umjubelten Musiala den Rasen betrat (74.). Gleich im Spiel mit guten Flanken.


