„Germany’s Next Topmodel“ hat Linus Weber (26) zwar „nur“ als Zweitplatzierter verlassen, dafür hat der gebürtige Bayer und heutige Wahlberliner etwas viel Wertvolleres gewonnen: Die Herzen der Zuschauer. Schon vor dem Start von GNTM kristallisierte sich Linus als absoluter Favorit der Show heraus. Heute folgen Linus auf Instagram fast 190.000 Fans – mehr als doppelt so viele wie dem Gewinner der Show. Auch über ein halbes Jahr nach GNTM reißt der Hype um den 26-Jährigen nicht ab. Doch was macht Linus so besonders?
Linus Weber spricht über seine Legasthenie
Die vielen Fans hat Linus nicht nur seiner sympathischen Art (und seinem guten Aussehen) zu verdanken, es steckt wesentlich mehr hinter diesem charmanten Lächeln mit den Grübchen, das habe auch ich – Promireporterin Julia – schnell gemerkt, wenn ich ihn auf Events und roten Teppichen getroffen habe. Sofort bekam ich den Eindruck: In Sachen selbstsicherem Posieren für die Fotografen sticht Linus Weber jede Konkurrenz aus, bei den Interviews hingegen ist ihm die Aufregung deutlich anzumerken. Welche Rolle die Nervosität bei Linus aber tatsächlich spielt, das habe ich erst später verstanden.
Dass sich ein GNTM-Kandidat ohne Hemmungen vor die Kameras stellt und drauflosredet, ist für uns Zuschauer normal. Schließlich suchen die Teilnehmer ja quasi das Rampenlicht. Linus jedoch kostete der erste Schritt in Richtung Öffentlichkeit Überwindung. Für einen fast schon ikonischen Moment sorgte die Diskussion mit Heidi Klum über Kurz- und Weitsichtigkeit. „Ich bin langsichtig“, sagte Linus und brachte damit so einige Zuschauer zum Schmunzeln. Doch ist es einfach Schüchternheit, die dem Model manchmal im Weg steht? Nein! „Ich bekomme immer mal wieder Nachrichten von euch, in denen ihr mich fragt, warum ich denn anders spreche als ihr. Ich habe Legasthenie und … ja!“, erklärte Linus vor einigen Monaten seinen Followern auf Instagram mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Der Berliner KURIER will mehr von Linus und seiner Legasthenie erfahren, weshalb wir ihn zum Interview in den Verlag einladen. Ich überlege mir vorher ganz genau, wie ich das Interview angehen soll. Ich möchte, dass sich Linus wohl fühlt und nicht denkt, er müsste mit dem Interview eine schwere Prüfung meistern.
Als Linus dann aber vor mir sitzt und ich ihm erkläre, dass er sich keine Sorgen machen muss und sich für seine Antworten Zeit lassen kann, fällt mir plötzlich auf, dass ICH es bin, die sich anscheinend einen zu großen Kopf um das Gespräch gemacht hat. Linus hingegen wirkt zwar wie so oft etwas nervös, aber keinesfalls angespannt oder ängstlich vor dem, was kommt. Und genau diese unbeschwerte Art und Weise, mit Herausforderungen im Leben umzugehen, ist es, die Linus unter anderem ausmacht. Er erzählt einfach, was ihn bewegt, ohne verkrampft darauf zu achten, immer die richtigen Worte und korrekten Satzstellungen zu verwenden.

Bei der Legasthenie handelt es sich laut der Weltgesundheitsorganisation um eine Lese-Rechtschreibstörung. Sie liegt vor, wenn anhaltende und eindeutige Schwächen im Bereich der Lese- und Rechtschreibung bestehen, die nicht auf das Entwicklungsalter, unterdurchschnittliche Intelligenz, fehlende Beschulung, psychische Erkrankungen oder Hirnschädigungen zurückzuführen sind. Bei Linus macht sich die Legasthenie vor allem in der Sprache bemerkbar, durch Nervosität wird sie verstärkt. Seine Mitmenschen weist er daraufhin, dass er Legastheniker ist, und erklärt seine Störung. Viele Menschen wüssten gar nicht, dass Legasthenie nicht nur bedeutet, nicht gut lesen und schreiben zu können. „Lesen und schreiben kann ich heute sehr gut, da fühle ich mich mittlerweile sicher. Ich habe sehr daran gearbeitet, gut lesen und schreiben zu können“, erzählt Linus. Unterstützung bekommt Linus auch von Familie und Freunden, die ihm zum Beispiel beim Verfassen von Texten behilflich sind.
Doch wie genau spiegelt sich die Störung in seiner Sprache wider? Stichwort „Langsichtigkeit“. „Ich verdrehe Wörter und entwickle sogar ganz neue Begriffe. In meinem Kopf macht das aber alles Sinn. Für mein Gegenüber kann das schwer verständlich sein“, erklärt Linus. „Es kommt vor, dass ich, wenn ich eine Geschichte erzähle, nur die Hälfte wiedergebe, aber das gar nicht merke. Am Ende kommt vielleicht eine ganz andere Geschichte dabei heraus. Meine Freunde kennen das schon und weisen mich dann darauf hin: ‚Linus, wir haben jetzt gar nichts verstanden.‘ Das ist kein Problem. Ich frage dann: ‚Soll ich es noch mal erzählen?‘ Das ist gang und gäbe.“
Linus‘ Sätze sind nicht immer perfekt, aber wer kann das schon von sich behaupten? Und obwohl bei Linus eine diagnostizierte Störung vorliegt, hat er keine Angst davor, Fehler zu machen, sondern lässt sie einfach zu, kann über sie lachen und geht grundsätzlich positiv durchs Leben. „Ich will nicht das Opfer meiner Legasthenie sein“, sagt er.

Eine harte Schulzeit und neuer Mut für die Zukunft
Dabei hatte es auch Linus in der Vergangenheit, insbesondere in der Schulzeit, nicht immer leicht. „Ich habe spät angefangen, zu sprechen und hatte quasi meine eigene Sprache. Ich habe zum Beispiel Geräusche gemacht, um mich auszudrücken. Als ich in den Kindergarten kam, war ich oft verärgert darüber, dass mich die anderen Kinder nicht verstehen. Ich war natürlich verunsichert und habe mich immer gefragt, warum ich das nicht kann. Die Diagnose hat mir letztendlich geholfen, zu erkennen, dass ich nicht dumm bin, sondern einfach nur lernen muss, mit meiner Störung umzugehen. Zu erfahren, was ich genau habe, hat mir Sicherheit gegeben.“
Gemerkt, dass Linus etwas anders spricht, hat er selbst in der ersten oder zweiten Klasse. Verstanden hat er das damals natürlich noch nicht. Während er mit Zahlen immer schon gut umgehen konnte, wurden das Lesen und Schreiben zu einem Problem, weshalb er zunächst eine Sprachförderschule besuchte und später auf eine normale Schule wechselte. „In der dritten Klasse wurde zunächst die Lese- und Rechtschreibschwäche festgestellt, auf dem Gymnasium in der siebten Klasse dann die Störung. Gemerkt, dass irgendwas anders ist, haben meine Eltern aber schon, als ich noch ein kleiner Junge war. Mein Bruder hat immer Comics von Asterix und Obelix gelesen, ich hingegen habe mir meine eigenen Geschichten gebaut, ohne zu lesen. Das fanden meine Eltern auffällig.“ Dass Linus heute so locker mit seiner Legasthenie umgeht, verdankt er hauptsächlich seinen Eltern, die seine Lese- und Rechtschreibstörung nie als ein Problem von oder für Linus ansahen und ihm beibrachten, keine Angst zu haben.

Trotzdem musste Linus die Erfahrung machen, im Leben vor allem mit EINEM Vorurteil konfrontiert zu werden: „Dumm zu sein, ist ein Vorurteil, das mir oft entgegengebracht wurde. Nicht nur von Mitschülern, sondern sogar von Lehrern. Ich habe Sprüche gehört wie: ‚Okay, du kannst es nicht, du bist nicht ganz helle‘. Als ich aufs Gymnasium kam, habe ich viel Mobbing erfahren müssen. Man wird als dumm abgestempelt, es wird gelacht, wenn man in der Klasse vorliest. Dadurch hatte ich natürlich Angst und wollte nicht mehr vor der Klasse vorlesen. Die Lehrer wissen oft nicht, wie sie damit umgehen sollen, rufen einen trotzdem zum Lesen auf und man fängt an, zu stottern. Dann wird natürlich noch mehr draufgehauen, darüber gelacht und Sprüche gemacht. ‚Nicht Linus zum Lesen aufrufen!‘“
Dabei ist Linus alles andere als unintelligent. Für die Diagnose musste er damals einen IQ-Test absolvieren. Das Ergebnis: Ein IQ von 125. „Sobald ich die Diagnose hatte, ging es mir besser. Weil ich dann die Bestätigung hatte: Ich bin auf jeden Fall nicht dumm, ich habe einfach nur Schwierigkeiten.“
Die Situation in der Schule wirkte sich trotzdem auch negativ auf Linus‘ Noten aus. Vor allem Deutsch war natürlich ein großes Problem. „Ich kam aufs Gymnasium, konnte nicht einmal die eigene Sprache und sollte dann auf einmal zwei Fremdsprachen lernen.“ Eine Zeit lang dachten Linus und seine Eltern über einen Wechsel an die Realschule nach. Doch Linus‘ großer Wille, Abitur zu machen, studieren zu können, vielleicht ins Ausland zu gehen und Basketballspieler zu werden, ließ ihn durchhalten. „Es gab einen Lehrer, mein damaliger Klassenlehrer, der meine Probleme verstanden und mich unterstützt hat. Er hat mein Potenzial gesehen und mit meinen Eltern geredet, die sich natürlich auch Sorgen gemacht haben. Er wusste, dass ich es schaffen kann und letztendlich habe ich es auch geschafft.“
Niemand muss sich für die Diagnose Legasthenie schämen
Linus machte sein Abitur, ging sogar für einige Monate in die USA, um seine Karriere als Basketballprofi voranzutreiben. Zweifel, dass Linus vor allem mit der Sprache nicht zurechtkommen würde, beseitigte er mit seinem Mut. Am Ende seines USA-Aufenthalts kam Linus zwar nicht als Basketballprofi zurück nach Deutschland, dafür aber mit einem guten Englisch und einem neuen Traum: Model werden. Die Sportler-Karriere hing er schließlich an den Nagel, seine Entschlossenheit führte ihn ins TV zum GNTM-Casting.


„Mich hat die Diagnose nie aufgehalten. Ich war immer der Meinung: Wenn du etwas machen willst, dann mach es! Das würde ich auch jedem Legastheniker sagen. Natürlich stößt man auf Schwierigkeiten, aber damit kann ich umgehen. Ich würde deswegen jedoch niemals davon abraten, etwas zu tun, was man machen möchte. Ich kann nur raten, offen mit seiner Legasthenie umzugehen, man muss sich für nichts schämen! Man sucht sich das Leben mit der Legasthenie ja nicht aus.“
Deswegen will Linus auch anderen Menschen, insbesondere Kindern und Jugendlichen, mit Legasthenie helfen und ist seit einigen Monaten als Botschafter für den Kinderschutzengel e. V. aktiv – ein Verein, der gemeinnützig schwer- und chronisch kranke sowie behinderte Kinder und Jugendliche und ihre Familien bundesweit unterstützt. „Als ich das mit der Legasthenie öffentlich gemacht habe, habe ich Nachrichten von Menschen bekommen, die auch Legastheniker sind und ihre Träume verwirklichen wollen. Ich finde es wichtig, mit den Kindern und Jugendlichen darüber zu sprechen, ihnen hoffentlich Mut zu machen und zu sagen: ‚Hey, du kannst als Legastheniker im Fernsehen auftreten, du kannst aber auch Jura studieren, du kannst machen, was immer du willst.‘ Die Legasthenie muss einem nicht im Weg stehen.“