
Tausende Videos von Drohnenangriffen auf Soldaten auf ukrainischer und russischer Seite geistern bereits durch das Netz. Oft ist dabei nicht nur zu sehen, wie die Sprengladungen explodieren, sondern auch, wie die Soldaten elendig verbluten. Doch mittlerweile bekommt der Drohnenkrieg eine ganz neue Dimension, denn aus der Ukraine gibt es immer mehr Berichte von Angriffen auf Zivilisten durch russische Drohnen. In der Frontstadt Cherson nennen das viele eine „Menschensafari“.
So wurden allein am Samstag vier Personen bei Drohnenangriffen verletzt. „Die Besatzer attackierten mit einer Drohne Zivilisten im Stadtteil Dniprowsk“, teilte die Regionalverwaltung mit. Ein 55-jähriger Mann und zwei Frauen (65 und 70) wurden durch die Explosion und Granatsplitter verletzt. Kurz danach traf es noch einen 60-jährigen Mann im gleichen Stadtteil.
Russische Drohnen jagen Zivilisten durch Straßen von Cherson
Drohnen jagen Zivilisten auch durch die Straßen der Stadt, die von einst 360.000 Einwohnern auf rund 80.000 geschrumpft ist. Andere setzen gezielt Wohnungen mit Brandbeschleuniger in Flammen, berichten Verwaltungsmitarbeiter aus der Region Cherson der Kyiv Post. Drohnenangriffe auf Zivilisten sind in jedem Fall Kriegsverbrechen nach der Genfer Konvention.
Bereits seit Monaten verzeichnen die Behörden einen Anstieg der Attacken. Laut dem Leiter der Regionalen Militäradministration, Oleksandr Tolokonnikow, gab es seit September 3000 Drohnenangriffe allein auf Zivilisten. Zehn Menschen wurden getötet, 130 verletzt. Die Angriffe träfen demnach häufig Rettungskräfte. So würden nach einem Angriff die Ersthelfer beschossen. KURIER berichtete bereits über das Thema.
Doch grundsätzlich seien alle Fahrzeuge ein Ziel: Busse, Minibusse, Taxis, Krankenwagen und Privatautos würden regelmäßig beschossen. „Viele Bewohner lassen das Auto mittlerweile stehen“, berichtet die Mitarbeiterin einer privaten Hilfsorganisation in der Ukraine dem KURIER auch über andere Regionen entlang der Front. Berichten aus Cherson zufolge zerstören russische Drohnenpiloten gezielt dort alle Fahrzeuge.

Russen protzen mit Drohnenangriffen auf Zivilisten im Netz
Die Chersonerin Olha Tschernyschowa schilderte dem Online-Portal Kyiv Independent, wie sie im September beinahe von einer Drohne getötet worden wäre. Als sie vor ihrem Wohnhaus aus dem Auto gestiegen sei, habe sie ein lautes Brummen gehört. Instinktiv sei sie zum Hauseingang gerannt. Kurz darauf explodierte eine Sprengladung auf dem Dach ihres Fahrzeugs. Am selben Tag seien weitere Fahrzeuge von Nachbarn angegriffen worden. Drei Personen wurden verletzt.
Mit Angriffen wie diesen protzen russische Soldaten derweil in den sozialen Netzwerken. Sie nutzen dafür oft sogenannte FPV-Drohnen. First-Person-View steht dabei für die Steuerung aus der Perspektive einer Kamera an der Drohne. „Eine gute Übung für junge Drohnenpiloten“ nennen russische Propagandisten die Angriffe auf Zivilisten. Dafür kommen die Drohnen meist mindestens zu zweit. Eine Überwachungsdrohne filmt den Angriff und eine Kamikazedrohne führt ihn durch.
Die Videos werden anschließend über Propagandakanäle der Russen verbreitet – mit hämischen Kommentaren quittiert. Auf einer der Aufnahmen ist zu sehen, wie eine Drohne einem weißen Pkw folgt. Als das Fahrzeug anhält, wirft die Drohne eine Granate genau auf die Windschutzscheibe. Der Fahrer öffnet die Tür und fällt heraus. Auf dem Boden breitet sich sein Blut aus. Mit den geposteten Videos werden dann erneut Spenden gesammelt, um weitere Drohnen kaufen zu können.
Mit den Angriffen hoffen die Russen, die Bewohner zur Aufgabe zu zwingen und entweder eine ukrainische Niederlage zu akzeptieren oder die Menschen zum Verlassen der Region zu bewegen. So könne eine Grauzone entstehen, in der russische Spähtrupps von der anderen Seite des Flusses aus immer wieder die ukrainische Seite infiltrieren könnten, schätzen Militärbeobachter. Eine effektive Abwehr gegen die kleine Drohnen, die vom Radar nicht zu orten sind, gibt es bisher nicht.
Hilfsorganisationen reduzieren Lieferungen in Frontgebiete
Auch zivile Hilfsorganisationen sehen sich einer steigenden Anzahl von Angriffen ausgesetzt. „Im August wurden in der Ukraine 12 Vorfälle mit Hilfsorganisationen gemeldet“, schreibt das Netzwerk INSO, welches sich um die Sicherheit von Nichtregierungsorganisationen kümmert. Die meisten der Vorfälle fanden demnach in der Region Cherson statt – vor allem in der Stadt selbst, heißt es. Für September soll die Zahl indes noch gestiegen sein. Cherson liegt am Fluss Dnipro. Die Stadt wurde im Herbst 2022 von ukrainischen Truppen befreit. Doch Russland hält weiterhin das andere Ufer besetzt und feuert von dort auch immer wieder mit Artillerie und Raketen auf die Stadt.
Für die NGOs werden die Angriffe immer mehr zum Problem. „Die Angriffe werden systematisch“, so die Mitarbeiterin der ukrainischen Hilfsorganisation zum KURIER. Viele Organisationen würde Versorgungslieferungen in Gebiete einstellen oder begrenzen, in denen es mehrfach Angriffe gegeben habe – um ihre Mitarbeiter zu schützen. Für die verbliebenen Bewohner sei dies dramatisch, da so noch weniger Hilfe in die sowieso schon abgeschnittenen Landesteile in Frontnähe komme. Einzig Nebel und Regen mache die Fahrten etwas sicherer, da Drohnen dann keine Sicht hätten.
Doch es kommt ein weiteres Problem auf die Bewohner der frontnahen Gebiete zu. Denn mit dem Herbst verschlimmert sich die Lage. „Wo werden wir uns verstecken, wenn die Blätter weg sind?“, fragt Olha Tschernyschowa aus Cherson im Kyiv Independent. „Dann ist die Jagdsaison auf die Menschen eröffnet.“ ■