Chaos durch Offensive

Kursk-Bewohner sauer auf Russlands Regierung: „Wo ist unser Staat?“

Die ukrainische Offensive auf die Region Kursk kam überraschend. Im dadurch entstandenen Chaos fühlen sich viele Bewohner von der russischen Regierung im Stich gelassen.

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Russische Zivilisten müssen sich wegen der Evakuierung aus der Grenzregion Kursk notdürftig mit Kleidung versorgen. Unter den Evakuierten gibt es massive Kritik an den russischen Behörden.
Russische Zivilisten müssen sich wegen der Evakuierung aus der Grenzregion Kursk notdürftig mit Kleidung versorgen. Unter den Evakuierten gibt es massive Kritik an den russischen Behörden.Ilya Pitalev/Imago

Es war ein Paukenschlag, den weder in Russland, wie auch selbst in der Ukraine oder im Westen kaum jemand erwartet hat. Durch die Offensive der Ukraine in der Region Kursk, wurden die wenigen russischen Truppen in der Region völlig überrascht. Erstmals seit Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hält die ukrainische Armee auch russisches Territorium über mehrere Tage besetzt.

Im Fernsehen gab Generalstabschef Walerij Gerassimow gegenüber Putin Entwarnung, alles sei unter Kontrolle. Putin selbst sprach von einer kleinen Sabotageaktion, die zurückgeschlagen werde. 

Russischer Panzer im Gebiet Kursk: die Verteidigung der Grenzregion versagte massiv bei der Offensive der Ukrainer.
Russischer Panzer im Gebiet Kursk: die Verteidigung der Grenzregion versagte massiv bei der Offensive der Ukrainer.Russian Defense Ministry Press Service/dpa

Bewohner der Region Kursk berichten über Chaos durch ukrainische Offensive

Doch viele Bewohner der Region Kursk an der Grenze zur Ukraine erleben derzeit, dass ihre Armee bisher immer noch nicht Herr der Lage ist und machen ihrem Unmut Luft. In einer für russische Verhältnisse erstaunlich offenen Reportage berichtet ein Reporter der Zeitung Kommersant über die teils chaotischen Zustände in der Region und das Behördenversagen. An einer Hotelrezeption in der Bezirkshauptstadt Kursk habe der Reporter Alexander Tschernych eine Bewohnerin aus der grenznahen Stadt Sudscha getroffen. Wie Olga Ustinowa ihm berichtet, riefen viele Bewohner zu Beginn der ukrainischen Offensive in der Region Kursk die Behördenhotlines und den Notruf an.

Entweder sei niemand rangegangen oder man habe nicht helfen können. „Ich habe den Notdienst des Bezirks Sudscha erreicht. Sie antworteten mir: ‚Wir haben keine Kontrolle über die Situation, wir wissen nichts‘“. Die Frau zeigte Verständnis für die Telefonistin. Diese sei schließlich auch nur eine einfache Bewohnerin. „Natürlich weiß sie nichts und hat auch keine Befehle erhalten. So waren wir auf uns allein gestellt.“ Die Behörden hätten tagelang keine Reaktion gezeigt. Weder am Dienstag noch am Mittwoch habe es Befehle zu einer Evakuierung gegeben.

Eine Kolonne von Lastwagen der russischen Armee wurde im Gebiet Kursk von den Ukrainern angegriffen.
Eine Kolonne von Lastwagen der russischen Armee wurde im Gebiet Kursk von den Ukrainern angegriffen.Kommersant Publishing House/AP

Moskau hat Anti-Terror-Operation in Grenzregionen erklärt

Erst am Samstag hatte Moskau dann die Evakuierung von 76.000 Menschen aus der Grenzregion angekündigt. Am Abend zuvor wurden für Kursk sowie zwei weitere Grenzregionen „Anti-Terror-Operationen“ angekündigt, die den Sicherheitskräften mehr Befugnisse geben, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Sie können dort nun Fahrzeuge beschlagnahmen, Städte abriegeln, Kontrollpunkte einrichten und Telefongespräche abhören.

Viele Bewohner packten aber schon vorher selbst die Koffer und flohen aus der Grenzregion. Viele werden nun von Freiwilligen versorgt, warten auf Unterstützung. Eine Frau, die laut Kommersant-Reporter Tatjana heißt, gibt an, dass sie auch aus der Stadt Sudscha geflohen seien und dachten, alles würde schnell vorbeigehen. „Wir haben nur das, was wir an uns tragen“, berichtet die Frau. Sie gibt an, dass ihre Tochter am kommenden Tag ein Treffen für Erstsemester an der Universität in Kursk habe. „Sie hat nicht einmal etwas zum Anziehen dort“, sagt sie. 

Auch andere gehen auf den Berichterstatter der kremlnahen Zeitung zu, die für russische Verhältnisse erstaunlich offen berichtet. „Ich will wissen, wo ist unser Staat?“, fragt eine Person. „Wo ist die Verwaltung? Sie könnten wenigstens mit uns sprechen. Wir wissen gar nichts.“

Freiwillige bringen Güter für die Evakuierten in Kursk.
Freiwillige bringen Güter für die Evakuierten in Kursk.AP

Heftige Kritik an Versagen von Armee und Behörden

Viele haben bemerkt, dass es einen Unterschied zwischen der offiziellen Propaganda und dem gibt, was wirklich passiert. „Warum haben Sie uns bis zum letzten Tag im Fernsehen belogen?“, fragt eine Person. „Sie sagten die Situation wäre stabil, dass es nur eine kleine Sabotage-und Aufklärungsgruppe sei.“ Auch sie fordert, dass die Regierung endlich die Wahrheit sage. 

Auf Videos, die in Kanälen beim Nachrichtendienst Telegram zirkulieren, wenden sich immer wieder Bewohner der Region Kursk an Russlands Diktator Wladimir Putin. In einem Video heißt es: „Wir unterstützen weiterhin die Spezielle Militäroperation [so nennt die russische Propaganda den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, Anmerkung der Redaktion] seit den ersten Tagen“, sagt eine Frau in dem Video, dessen Echtheit sich nicht überprüfen lässt. „Niemand hat uns gewarnt und wir konnten nichts mitnehmen, keine Dokumente, nichts.“ Dann bitten die Bewohner Putin, die Wahrheit über die Situation den Führern des Militärs und der Behörden mitzuteilen, denn was offiziell bekanntgegeben werde, sei eine Lüge. 

Auch im 500 Kilometer entfernten Moskau sind die Menschen verärgert. Maria (35), die ihren Nachnamen nicht nennen möchte und in der Werbung arbeitet, sagt dass niemand wisse, „was gerade passiert“ und kritisiert, die Menschen würden „an der Nase herumgeführt“. In einigen TV-Sendungen werde berichtet, dass „alles wie immer ist und der Feind gestoppt wurde. Aber die Leute vor Ort - wir haben Verwandte in Kursk - sprechen von einer Schmach.“

Ukrainische Soldaten starten eine Aufklärungsdrohne, um die Grenzregion Kursk auszuspähen.
Ukrainische Soldaten starten eine Aufklärungsdrohne, um die Grenzregion Kursk auszuspähen.Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Militärblogger tragen zu Verwirrung bei

Viele Menschen in Moskau zeigen sich irritiert darüber, dass die ukrainische Armee die Grenze so leicht überqueren konnte. „Sie sind zwar weit weg, aber es fühlt sich sehr nah an“, sagt Victoria, eine 36-jährige IT-Analystin. Dennoch habe ihre Familie „volles Vertrauen“ in die Regierung. Die nun ergriffenen Maßnahmen seien der richtige Weg, fügt sie hinzu. 

Auch einflussreiche Militärblogger, welche die russische Militäroffensive in der Ukraine unterstützen, haben die Armeeführung scharf kritisiert. Diese habe den ukrainischen Vorstoß nicht rechtzeitig bemerkt und ihn auch nach fünf Tagen noch nicht abgewendet, bemängeln sie. Doch auch die zahlreichen russischen Militärblogger tragen zum Teil zum Chaos bei. So berichteten einige, dass der Kreis Belaja in der Region Kursk geräumt werden müsse. Die Behörden widersprachen zunächst noch, bestätigten dies später. Immer wieder wird zudem von ukrainischen Angriffen in verschiedenen Orten berichtet. Am Sonntag verbreitete sich das Gerücht, Ukrainer würde russische Fahrzeuge kapern und damit russische Einheiten beschießen.

Eines ist für viele Russen durch die ukrainische Offensive wohl doch klar geworden. Es stelle sich die Frage, wer für den Angriff zur Rechenschaft gezogen werden muss. Nach der Meinung von Marias Ehemann Denis handelt es sich entweder um einen „sehr schlauen Plan“ der Ukrainer - oder um das Ergebnis von „Fehlern“ des russischen Armee-Kommandos.