Wissen Sie noch früher, als man Magazine aufgeschlagen hat, die einem dann gesagt haben, welche Klamotten „in“ waren? Da hatte man dann eine Reihe an Trends aufgelistet, die man mitmachen konnte oder nicht. Cowboystiefel, Blumenmuster, Miniröcke oder Trenchcoats: Meistens hatten die Trends nicht viel miteinander zu tun, und wenn man sich ein trendiges Kleidungsstück am Anfang der Saison kaufte, konnte man davon ausgehen, dass es am Ende der Saison immer noch modern war.
Aus Trends wurden dank des Internets „Mikrotrends“
„Das gibt es doch heute immer noch“, sagen Sie? Fragen Sie ruhig mal Ihre Kinder und Enkelkinder, woher sie wissen, was modern ist. Wahrscheinlicher ist nämlich heutzutage, dass sie über Instagram und TikTok erfahren, was gerade im Trend ist. Und die funktionieren natürlich anders als Modemagazine: Statt sich gemütlich hinzusetzen und die Seiten und Trends auf sich wirken zu lassen, scrollt man ganz nebenbei im Alltag durch Instagram. Wenn etwas nicht auf den ersten Blick gefällt, wischt man schon weiter.
Weil diese Trends so schnell durchgeguckt und bewertet werden, sind sie auch viel schnelllebiger als früher. Da kann etwas über Nacht zum Riesenhit werden und zwei Tage später ist es schon wieder überholt. Das nennt sich „Mikrotrend“: Die Trends halten nicht mehr eine Modesaison, sondern bleiben manchmal nur ein paar Tage, bevor sie wieder in die Versenkung geraten. Sie können sich vorstellen, was für ein Desaster das für Geldbeutel und Umwelt ist.

Von „Cottagecore“ bis „Coastal Grandma“: Das sind die Internet-Trends
Und natürlich sind Trends heutzutage auch nicht mehr einfach „Trends“ – sie sind eine „Ästhetik“. Cool sind nicht mehr dunkle Karomuster, cool ist die „Dark Academia“-Ästhetik. Aber was ist eine „Ästhetik“, fragen Sie sich?
Die erste große Ästhetik, die Anklang gefunden hat, war wohl am Anfang der Pandemie „Cottagecore“. Zusammengesetzt aus den Wörtern „Cottage“ (das englische Landhaus) und „core“ (englisch für „Kern“), bezeichnete Cottagecore das idealisierte Landleben – was es im „Kern“ sozusagen ist. Junge Menschen fingen damals plötzlich an, ihr eigenes Brot zu backen, trugen dazu lange Kleider und Blusen wie sie Bauernfrauen damals getragen hätten. Man wollte dem Alltag entfliehen und das Leben entschleunigen, kurz gesagt: Eine Ästhetik ist eine ganze Lebensphilosophie.
Seitdem musste nicht nur das Retro-Landleben dran glauben. Ästhetiken tauchen ständig neue auf. „Coastal Grandma“ (deutsch: „Küsten-Oma“) war 2022 eine Ästhetik, die den Lebensstil gut betuchter Rentnerinnen, die an die Küste gezogen sind, aufgreifen soll. Wenn Sie also das nächste Mal an der Ostsee entspannen, könnten Sie richtigerweise die Beobachtung machen: „Das ist sooo Coastal Grandma.“
Welche Ästhetik gerade Trend ist? Selbst wenn ich Ihnen das sagen würde, wäre das vermutlich schon wieder überholt, sobald diese Zeitung gedruckt wird. Aber fragen Sie gerne Ihre (wahrscheinlich weiblichen) Kinder und Enkel. Für viele junge Menschen sind Ästhetiken ein Schritt zur Selbstfindung und zur Gruppenbildung.
„Wer bin ich?“, ist eine ganz schön große und überwältigende Frage, gerade wenn man jung ist. Aber einen Charakter wie die „Coastal Grandma“ spielen zu können, während man als junger Mensch herausfindet, was man mag und was nicht – das kann dieses große Rätsel handhabbarer und spaßiger gestalten.
Jana Hollstein schreibt immer dienstags für den KURIER über die große weite Welt des Internets. Mails an wirvonhier@berlinerverlag.com ■