Hauptstadt-Neuankömmling

Berlin gegen Spießigkeit: Klappriges Rad, Herzlichkeit und Anti-Spieß

In meiner Kolumne erzähle ich Ihnen von schönen Momenten in den ersten Monate in Berlin. Liebe Späti-Besitzer, was wär Berlin ohne euch?

Author - Veronika Hohenstein
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Liebe Späti-Besitzer, was wär Berlin ohne euch? In meiner Kolumne erzähle ich Ihnen von schönen Berlin-Stündchen.
Liebe Späti-Besitzer, was wär Berlin ohne euch? In meiner Kolumne erzähle ich Ihnen von schönen Berlin-Stündchen.Veronika Hohenstein

Vor sechs Monaten zog ich vom verschneiten Schweden nach Berlin. Der Winterwind pfiff durch die grauen Straßen, und die Stadt wirkte rau und schmutzig – aber auch unwiderstehlich lebendig. In meiner ersten Kolumne berichtete ich über mein Ankommen. „Das wird schon ...“ musste ich mir öfter sagen. Denn ja, bei aller Euphorie, Berlin hat mich auch gefordert. Jetzt erzähle ich Ihnen von den Vorteilen eines klapprigen Fahrrads, wie herzlich Späti-Besitzer sind und warum ich jetzt weiß, dass Berlin mir die Spießigkeit ausgetrieben hat!

Ist Berlin gut gegen Spießigkeit?

Wenn ich zurückblicke, auf meine erste Zeit hier, weiß ich, dass Berlin mir die Spießigkeit ausgetrieben hat. Ohne lebt es sich hier einfach leichter. In Schweden legte ich immer viel Wert auf Ordnung, aber hier lernte ich schnell, Chaos und Unvollkommenheit zu schätzen. Mittlerweile finde ich vieles sogar „authentisch“, was ich früher, in meiner unkultivierten Unwissenheit, als Unordnung abgestempelt hätte. Ob es die Häuser, die Menschen, das Essen oder das Miteinander sind - Berlin lädt immer zu spontanen Momenten ein.

„Mein Berlin“ ist, wenn ein Straßenmusikant mit verrückter Frisur und schrägen Klamotten eine streng blickende Dame im gebügelten Baumwollshirt spontan zum Tanzen auffordert. Dieser Anblick erfreute mich sehr – und ich musste meine Vorurteile korrigieren. Mein Berlin ist auch das EM-Fußballfinale vor einem Späti auf dem Bürgersteig zu gucken.

Mein wunderbares Berlin – manchmal rau, manchmal lieblich. Hier will ich erstmal nicht weg! Ein Wolkenspektakel am Maybachufer, Mitte April.
Mein wunderbares Berlin – manchmal rau, manchmal lieblich. Hier will ich erstmal nicht weg! Ein Wolkenspektakel am Maybachufer, Mitte April.Veronika Hohenstein

Späti-Besitzer, was wär Berlin ohne euch?

Ja, die herzlichen Späti-Besitzer, was wär Berlin ohne euch? Sie sind die, die spontan einen Fernseher auf die Baustellenzäune stellen, mit braunem Band das Kabel über den Bürgersteig kleben. Plötzlich steht da ein Publikumsmeer an Passanten, alle dürfen mitgucken. Man lacht, trinkt ein Bierchen, und weil dieser Fernseher so sporadisch angeschlossen ist, fällt das Tor irgendwie zwei Minuten später als bei den übrigen Kneipen der Straße. Überall wird gejubelt, und wir wollen nur wissen, wer gleich bei uns jubeln darf ... und harren auf der Ecke des umgestülpten Bierkastens aus.

Berliner sind die Retter, wenn mein klappriger Drahtesel lahmt!

Liebes Berlin – warum haben gefühlt alle Lust auf Fahrrad reparieren? Mein Tipp für Menschen, die sich nach schönen Begegnungen sehnen: Mit einem alten, klapprigen Fahrrad kann man tolle Bekanntschaften machen, ob vor Spätis, Restaurants, in Hinterhöfen oder auf engen Gehwegen.

Das Fahrrad, das ich als Gästerad für meine Berlin-Besucher angeschafft habe, ist ein echter Drahtesel, stur und sperrig. Ich schaffte es kaum, das Rad nach dem Erwerb heimzufahren, bevor es seine ersten Wehwehchen kundtat. Der Reifen eierte ein bisschen, aber damit kann man ja fahren ... wenn es nur dabei geblieben wäre. 

Der Drahtesel hatte andere Pläne. Jedes Mal, wenn Ausflüge geplant waren, bescherte er uns irgendwelche Problemchen – die Pedale wollte sich verabschieden, der Reifen war platt, die Kette flog gerne und regelmäßig raus. Das Tolle war, dass wir auch jedes Mal auf tolle Menschen dieser Stadt trafen, die sich mit Willen und Geduld unseren Reparaturversuchen anschlossen.

Vorteile eines alten, scheppernden Fahrrades: Das Ankommen/Vorbeikommen wird auf den Wegen Berlins ganz natürlich wahrgenommen, es scheppert höflich – keiner muss sich vor einer aggressiven, lauten Klingel erschrecken. Hier ist mein neues Gäste-Rad.
Vorteile eines alten, scheppernden Fahrrades: Das Ankommen/Vorbeikommen wird auf den Wegen Berlins ganz natürlich wahrgenommen, es scheppert höflich – keiner muss sich vor einer aggressiven, lauten Klingel erschrecken. Hier ist mein neues Gäste-Rad.Veronika Hohenstein

„Ich liebe Räder, die scheppern und quietschen!“

Ist Ihnen das auch schon mal passiert? Irgendwie bringt das Reparieren eines Rades richtig Spaß, vor allem wenn es nicht das eigene Rad ist! Es schraubt sich einfach besser an fremden Rädern. Der eine packt einen Schlüssel aus, der nächste hat zufällig einen Schrauber dabei, der dritte engagiert die Stammkunden beim nächsten Späti, und diese können von der Seite gute Tipps und Kommentare beisteuern, denn sieben Leute gleichzeitig am Rad haben halt keinen Platz. In Schlappen prüfen sie, ob das Rad nach dem Schrauben nun läuft – die Kette springt wieder raus – sie schmunzeln, machen Witze ... die Zigarette wird schnell zu Ende geraucht und weiter geht’s.

Irgendwann die schlechten Nachrichten: „Das Rad ist verzogen, ich würde aber die Lampen und den Sattel aufheben.“ Danke, liebe Berliner, für diese Stündchen, eure Hilfe, Geduld und all die herrlichen Gespräche zwischendrin. Mein treuer Drahtesel dient nun noch einem Händler für Ersatzteile. Übrigens, mein neues Gäste-Rad klappert auch schon ein bisschen – mal sehen, wo dieses auf der Strecke bleibt. Wir sehen uns in Berlin! ■