Wie in der DDR der Kiez Karriere machte
Ein Stadtviertel im Wandel der Zeit. Warum Erich Honecker vor 33 Jahren den Kiez wiederentdeckte

Es gibt keinen einzigen echten Kiez mehr in Berlin, aber Hunderttausende Berliner, die sich so sehr welche wünschen, dass sie eben doch existieren – als ein Dorf in der Großstadt, ein Wohnviertel mit intakter Infrastruktur, wo jeder jeden kennt und man nett miteinander umgeht, wo man alles findet, was man braucht, und sich in überschaubaren Verhältnissen wohlfühlt, als Mensch statt als Partikel einer Metropolenmasse. Auffallend stark vertreten sind Kiezliebhaber unter Zuzüglern, die die dörflich-kleinstädtische Provinz mit der Großstadt und ihrer freimachenden Luft tauschen wollten.
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Rückt dann aber der metropolitane Moloch vor, schließen die Kiezer die Reihen: Droht dem Kiezladen die Pleite oder gar ein gieriger Miethai, rückt die Nachbarschaft an. Funktioniert das Großstadtidyll nicht, wie es soll, dann heißt es „Problemkiez“.
Zwei echte Kieze gab es mal in Berlin (wenn man die Stadt als das vor 100 Jahren entstandene Großgebilde betrachtet): einen in Spandau und einen in Köpenick. Ursprünglich hießen die slawischen Dienstsiedlungen zu Füßen einer deutschen Burg Kietz. In alten Urkunden steht oft „Kytz“. In diesem Text findet die alte Form Kietz Anwendung, solang die Zeitgenossen es so schrieben.
Gemeinschaftliches Wirtschaften
Solche Dienstsiedlungen waren in Nordostdeutschland nicht selten; sie spiegelten die Verhältnisse nach der Christianisierung der sogenannten Germania Slavica im 11. Jahrhundert. Ritter auf Kreuzzug waren in das hiesige Heidenland eingerückt, hatten Burgen errichtet und Siedler herbeigeholt. Der ursprünglichen Bevölkerung ließen sie – sofern die Leute sich taufen ließen – das Leben. Und vor allem ihren Fisch als Lebensgrundlage.
Die Spandauer Kietzer fanden sich erstmals dokumentiert in einer Urkunde von 1393, darin beschrieben als „Wenden uff dem Kietze daselbst vor Spanndow“. Sie lagen im Streit mit dem örtlichen Benediktinerinnenkloster. Probst Ortwin, Landschreiber der Mark Brandenburg, vermittelte einen Kompromiss: Die slawischen Kietzer durften den Lietzensee mit „Großem Garn“, also mit Netzen, und auch in der Seemitte, befischen, mussten aber die Hälfte des Ertrags an das Kloster abliefern. Die andere Hälfte sollten sich die Kietzer teilen. Das bedeutet: Sie wirtschafteten gemeinschaftlich.
Der Spandauer Kietz gehörte mit 29 Familien zu den größten, entsprechend der Bedeutung der Burg Spandau, zu der diese in Abhängigkeit standen. Sie lebten auf eigenen Grundstücken und verfügten durch die Jahrhunderte über großzügige, von jedem neuen Herrscher bestätigte Fischereiprivilegien. Im Gegenzug belieferten sie die Burgherrschaft mit Fisch und mussten für diese Dienste leisten.

Seinen „lieben und getreuen Kietzern“ bestätigte der brandenburgische Kurfürst am 11. Januar 1515 das Fischereirecht „flussauf und -nieder“. Als 1559 der alte Kietz dem Neubau der Zitadelle weichen musste und am Borgwall ein neuer entstand, blieb er von der deutschen Stadt Spandau streng geschieden. Stadtrechte besaßen die Kietzer nicht, die Spandauer Zünfte taten alles, um ihre Reihen „wendenfrei“ zu halten.
Der Köpenicker Kietz lag am Ostufer der Dahme gegenüber der einstigen Slawenburg, dem späteren Schloss – und bewahrte seine Selbstverwaltung. Das bedeutete auch hier, dass die Bevölkerung stadtrechtlich weder zu den Bewohnern der Burg noch zu den Einwohnern der Stadt Köpenick zählte. Laut Erbregister von 1589 gab es 31 Kietzer Familien, alle mit Fischereirechten ausgestattet.
Als Besonderheit fanden die Bewohner der zahlreichen Kietze in der Mark auch gesonderte Erwähnung in Dokumenten. So schrieb Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig, in einem Erlass zur Förderung der Binnenschifffahrt vom 23. Oktober 1719, „einem jeden Bürger, Kietzer und Einwohner in und bey den Wasserstädten“ stehe es frei, „ein und mehrere zur Abführung Getreydes und anderer Waaren bequeme grosse Kahne oder Schiffe bauen und verfertigen zu lassen“.
Der Köpenicker Kietz wurde 1898 in die umgebende Siedlung eingegliedert. An der Straße namens „Kietz“ steht heute ein denkmalgeschütztes Gebäudeensemble aus dem 18. und 19. Jahrhundert: Groß-Berlins einzig echter Kietz.
In hohem Ansehen standen die Leute aus den kleinen Ansammlungen oft ärmlicher Häuser nicht. Meyers Großes Konversationslexikon von Anfang des 20. Jahrhunderts erläutert: „Da die Kietzer an Bildung, Wohlstand und Rechten den deutschen Städtern nachstanden, so erhielt der Name Kietz einen spöttischen Beigeschmack, und noch heute werden dürftige und entlegene Vorstadtgegenden scherzweise Kietz genannt.“ Bekam einer zu hören „Du bist woll von Kietz?“, dann sollte das besagen, derjenige sei von vorgestern, von „hinterm Mond“. In Hamburg blieb am St.-Pauli-Viertel um die Reeperbahn das Anrüchige vom Kietz hängen.

Um die Jahrhundertwende geschah in Berlin eine bedeutende Sinnübertragung: Der Begriff Kietz wanderte vom Rand in die Stadtmitte. Plötzlich hießen auch Alt-Berliner Ecken mit engen Gassen, verfallenden Häusern, armen Familien so. Was als des Malers Heinrich Zille „Milljöh“ verstanden wurde, erlangte die Bedeutung von Kietz.
Für diese Wanderung sprechen auch nationalsozialistische Schriften aus den 1930er-Jahren. Demnach galten Orte mit ausgesprochen kommunistischer Bevölkerung als Kietz, zum Beispiel der Alexander- oder Nostitzkietz. Andererseits höhnten die Nazi-Aktivisten über Gegenden wie das Bötzowviertel, das sie abfällig „Beamtenkietz“ nannten. Zu spezieller Berühmtheit gelangte der sogenannte Fischerkietz auf der Spreeinsel. Der NS-Jungführer Horst Wessel führte seine SA-Schläger gezielt in den armen, mit seinen Proletenkneipen als rot bekannten Bezirk und zettelte Schlägereien an.
Der zeitgenössische Historiker Herbert Ludat meinte in seiner Arbeit „Die ostdeutschen Kietze“, die Presse habe den Fischerkietz zu einem feststehenden Begriff gemacht, einen Kietz habe es an dieser Stelle niemals gegeben. Solche Kietz-Bezeichnungen seien „geradezu als Musterbeispiel für moderne und gerade erst im Entstehen begriffene“ zu sehen.
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Was sich gleichwohl als Fischerkietz einbürgerte, war eigentlich ein Marktviertel auf der Spreeinsel im alten Stadtteil Cölln gewesen. Als auf dem Areal südlich der Gertraudenstraße ab 1954 ein Neubauquartier geplant wurde, erfand man den Namen Fischerinsel – eine Pseudohistorisierung parallel zum Totalabriss der historischen Bebauung in den 1960er-Jahren. Die bis heute stehenden Punkthochhäuser romantisierend mit Fischerkaten zu verbinden, fällt schwer. Noch schwerer, die Gegend als gemütliches Viertel zu sehen. Immerhin stehen die Häuser am Wasser – und das wenigstens war kietz-typisch.
Wie die Abkehr der DDR-Führung von dieser Politik der Abrissorgien mit der weiteren Karriere des Wortes Kiez – nunmehr ohne „t“ geschrieben – zusammenhängt, deckt der Berliner Historiker Hanno Hochmuth in seinem Buch „Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin“ auf. Er ermittelte im elektronischen Archiv der Berliner Zeitung, das sämtliche Ausgaben seit 1945 erfasst, die Kiez-Häufigkeit, und wies das Ergebnis in einer grafischen Kurve aus. Es ist eindrucksvoll.
Wendepunkt zum Jubiläum
Nach Jahrzehnten seltenen Vorkommens schnellt die Trefferzahl im Jahr exponentiell 1987 nach oben – Corona-geschult wissen wir, was das bedeutet. Die Ursachen für den Kiez-Boom liegen auf der Hand: Die 750-Jahr-Feier Berlins stand bevor, Ost und West bereiteten das Ereignis von 1987 als Propagandawettstreit vor. Die DDR-Führung freundete sich mit der kurz zuvor noch verachteten Geschichte Berlins an, errichtete das Nikolaiviertel samt Kirche neu, stellte 1980 den Alten Fritz wieder Unter den Linden auf und rekonstruierte die Husemannstraße im Prenzlauer Berg im Stil der Gründerjahre.
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Die Baupolitik hatte in den Jahren zuvor eine Wende vollführt. Seit 1979 galt ein Abrissstopp, die „komplexe Rekonstruktion“ begann. Baulücken in Altbaugebieten wurden mit Plattenbauten geschlossen – die historischen Traufhöhen und Straßenfluchten beachtend. Das FDJ-Programm „Dächer dicht in der zweiten Schicht“ mobilisierte Baureserven für die Altbaurettung. „Kiez“ stand nun für die Aufwertung der Viertel; die Losung dazu: „Unser Kiez soll schöner werden“. Erich Honecker, der kiezferne Saarländer, verwendete das Wort in seiner Festrede zur 750. Jahrfeier: Hunderttausende hätten in ihrem vertrauten Kiez eine schöne Wohnung gefunden, sagte er. Das DDR-Fernsehen zeigte die populäre Serie „Kiezgeschichten“. Kiez war nun überall, wo sich die Arbeiterklasse zu Hause fühlte, also auch in den Neubauvierteln am Standrand. In Kreuzberg hingegen sah der Reporter der Berliner Zeitung, der 1988 über das Elend im Westen berichtete, den Kiez alten Typs voller Arbeitslosigkeit, Drogenhandel, Spiel- und Alkoholsucht.
Heute lodert die Kiezliebe immer dann besonders heftig, wenn Gentrifizierer drohen, wobei diese ja auch oft kommen, weil sie in einem intakten Kiez leben wollen. Und wo findet der Kiez heute am deutlichsten zu sich? Im Späti. Im von türkischstämmigen Nachbarn betriebenen Bierversorger.