Auf zehn Kinder kommt ein Kind, das überhaupt nicht Fahrrad fahren kann. Das sagt Hans-Günter Päske. Er ist Fahrrad-Coach. Immer mehr Kindern fehlen die motorischen Fähigkeiten, bemängelt auch die Polizei. Um das zu ändern, gibt es an den ersten Berliner Schulen Fahrradfahren als Schulfach. Hans-Günter Päske ist einer der Coaches an der Obersee-Grundschule in Alt-Hohenschönhausen.
Verein Wheel Divas unterrichtet Radfahren an Schulen
Wieso gibt es das noch nicht an allen Schulen, werden Sie sich nach diesem Bericht fragen. Wheel Divas, der eingetragene Radsportverein nur für Frauen (der auch ein Bundesliga-Team stellt) hat Fahrradfahren als Unterrichtsfach an ein paar Berliner Schulen gebracht! „Wir sind das einzige Radsport-Team, das sich für den Nachwuchs interessiert“, beteuert Vereins-Mitglied und Fahrrad-Coach Hans-Günter Päske. Das Pilotprojekt startete vor über zwei Jahren. Ihr großes Ziel: „Fahrradfahren sollte zum festen Bestandteil des Sportunterrichts gemacht werden, so wie auch Schwimmen.“
Wie wichtig der Einsatz des Vereins ist, zeigen die Zahlen: „Auf zehn Kinder kommt ein Kind, das überhaupt nicht Fahrrad fahren kann“, schildert Päske. Der Grund: „Wenn die Kinder nicht richtig fahren können, dann weil die Eltern es selbst nie richtig gelernt haben oder es nicht vermitteln können.“ Oft seien auch fehlende finanzielle Mittel ein Grund: Nicht jede Familie könne sich Fahrräder für ihre Kinder leisten.

Hier knüpfen die Wheel Divas mit BikeFit an: Sie bieten Fahrradunterricht an Schulen an, aktuell für die Klassenstufen 4, 5 und 6. „Die Resonanz von den Schulen ist riesig“, beteuert Päske. Denn zu viele Elterntaxis würden die Straßen verstopfen, nur wenige Kids würden ihren Schulweg selbstständig begehen. „Nur 1 Prozent der Kinder nehmen aktiv am Straßenverkehr teil und radeln zur Schule.“ Doch nicht so an der Obersee-Grundschule im Berliner Ortsteil Alt-Hohenschönhausen! Hier wird BikeFit jetzt das dritte Jahr angeboten und hat schon viele Kids erfolgreich an ihre Fahrräder gewöhnt. „Von zehn Kindern, die wir ausgebildet haben, ist es hinterher auch so, dass neun mit dem Fahrrad zur Schule kommen.“
Kids sollen sich auf dem Rad sicherer fühlen und so mehr Spaß haben
Der KURIER ist diese Woche bei einer Unterrichtseinheit des Wahlpflichtfachs BikeFit dabei. Acht Kinder einer sechsten Klasse machen mit. Der Verein bietet sein Programm immer für bis zu zwölf Schüler an. Geleitet wird der Unterricht dieses Mal von Vereins-Mitglied Ronny Grähn-Böttcher, der wie alle Coaches eine offizielle Ausbildung absolviert hat. Sportlehrer Arnë Boetius von der Obersee-Grundschule unterstützt ihn dabei – er hat die BikeFit-Ausbildung ebenfalls gemeistert und ist ein Riesen-Fan der Sache: „Es geht darum, das Fahrrad zu beherrschen und eine Freude dafür zu entwickeln. Das Feuer der Leidenschaft zu wecken und zu halten, auch nach dem Programm.“

„Es ist ein richtiges Ausbildungs-Curriculum, wie eine Art Lehrplan“, erklärt Päske zum Wahlpflichtfach BikeFit. „Das ist ein großer Unterschied zu den Vereinsangeboten, die man so kennt. Daran halten sich dann auch die Lehrer und Ausbilder. Das wird dann am Ende des Schuljahres absolviert und endet richtig mit einer Prüfung und dann kriegen sie Medaillen: Gold, Silber, Bronze – ähnlich wie beim Schwimmen.“ So bekämen die Eltern auch einen Indikator: „Wo kann ich denn mein Kind einsortieren, was die Fahrtüchtigkeit angeht?“

Die Schüler meistern hier richtige Parcours
„Es gibt verschiedene Kompetenzen, die die Kinder üben und erreichen sollen“, erklärt der Sportlehrer, während Grähn-Böttcher einen Parkour auf dem Schulhof aufbaut. Die Sechstklässler arbeiten hier auf einem ziemlich fortgeschrittenen Niveau: Sie fahren problemlos über Wippen und Rampen, klettern mit den Rädern sogar über größere Hindernisse. Doch auch das langsame „Schneckenfahren“ wird hier geübt – wie man besonders eng im Kreis fahren kann. „Es geht hier tatsächlich darum: Wie komme ich aus der Straßenbahnschiene raus? Wie komme ich einen Bordstein hoch? Wie kann ich einarmig fahren oder sogar freihändig?“, ergänzt Päske.

„Was ist wichtig, wenn man so einen großen Huckel runterfährt? Wenn wir über die Kante nach unten fahren, was ist da wichtig?“, fragt Boetius seine Schüler vor einer schwierigen Übung. Die Kinder wissen Bescheid: „Man muss die Pedale auf einer Höhe halten“, „Aufstehen und das Gewicht nach hinten verlagern, damit man nicht so schnell nach vorne fällt“, „Lenkrad festhalten und hochziehen“, antworten die Schüler. „Und den Popo nach hinten!“ An dieser Stelle kichern alle.
Die Kinder lieben den Unterricht
Auch sonst ist die Stimmung super, die Schüler ermuntern einander und klatschen, wenn jemand zum ersten Mal eine bestimmte Übung schafft – egal, auf welchem Level. Der Unterricht findet entweder auf dem Schulgelände statt oder auch außerhalb im Kiez. Die Ausbilder fahren mit den Kids gerne an die umliegenden Seen wie den Orankesee, wo es auch schwieriges Gelände gibt. Und die Schüler lieben es! „Ich finde es auch sehr schön, dass wir manchmal rausfahren. Seitdem ich das im Kurs gelernt habe, traue ich mich auch mal, Treppen runterzufahren. Das hätte ich mich nie getraut. Es macht auf jeden Fall wirklich sehr viel Spaß!“, berichtet Ava.

Dem kann Emma nur zustimmen: „Ich finde BikeFit sehr schön! Ich habe hier echt viel gelernt.“ Wie viel die Kinder tatsächlich lernen, sei auch an der Resonanz der Eltern spürbar, wie Herr Boetius berichtet. „Der Unterricht hat sich bewährt und kommt bei den Eltern unheimlich gut an. Die sind begeistert. Wir kriegen nur positive Rückmeldung. Es ist einfach freudvoll, es macht Spaß, die lernen unheimlich viel dabei und animieren einander. Das ist für mich einer der besten Kurse, die ich je gemacht habt“, schwärmt der Sportlehrer, der seit knapp 20 Jahren unterrichtet. „Ich kann’s immer nur loben und sagen: Das müsste es eigentlich überall geben!“

Warum ist der Fahrrad-Unterricht kein Standard an Schulen?
Doch warum gibt es dieses Angebot nicht überall? Hier muss Päske vom Verein Wheel Divas ein bisschen ausholen: „Im Schulgesetz steht, dass in Klasse 4 die Fahrradprüfung stattfinden muss. Aber es steht nicht drin, wer dafür verantwortlich ist. Der Grundschullehrer muss nur dafür Sorge tragen, dass die Kinder in den Verkehrsgarten kommen. Der Verkehrspolizist muss nur dafür Sorge tragen, dass die Prüfung abgenommen wird. Aber wer bildet denn die Kinder aus?“ Mit dieser Frage habe sich bisher niemand ausreichend beschäftigt.
Viele Kinder könnten auch nach der „leider sehr simplen“ und „auch nicht einheitlichen“ Fahrradprüfung immer noch nicht richtig fahren oder würden einfach durchfallen. „Da sehen wir Berlin in der Pflicht, dieses Manko aus dem Weg zu räumen“, beteuert Päske, der das BikeFit-Konzept gerne auf die ganze Stadt ausweiten würde. Doch dafür fehle das Geld an allen Ecken und Enden. Aktuell würde der Verein sich selbst finanzieren, was die Ausbildung der Trainer angeht. So können sie natürlich nur wenige Schulen bedienen. „Die Schulen rennen uns die Bude ein, aber wir können nicht genug Ausbilder bezahlen.“

„In Berlin ist dafür keiner zuständig“, ärgert sich Päske, der bereits drei Senatsverwaltungen kontaktiert habe. Doch der intensive Austausch mit den Senatsverwaltungen für Sport, Verkehr und Bildung habe nichts Konkretes ergeben: „Jeder schiebt es auf den anderen. Das ist politisch eigentlich ein totaler Skandal, weil wir die Straßen vollpflastern mit grünen Radwegen und so weiter – aber in die Bildung wird nichts investiert.“
Beim Thema Fahrradfahren fehlt die Bildung
Sein Vorschlag lautet: „Ein Hinweis, ein Nachtrag im Mobilitätsgesetz würde helfen: Dass der Senat sich nicht nur verpflichtet, baulich die Stadt verkehrssicher zu machen, sondern vor allen Dingen in die Bildung zu investieren. Die Bildung fehlt hier!“ Päske ist überzeugt: „Wenn ich gut ausgebildete Kinder im Straßenverkehr habe, kommen die mit allem zurecht. Kinder kommen auch mit einem schlechten Fahrradweg zurecht. Die brauchen keine grünen Fahrradwege, das lernen die nämlich alles. Die brauchen keine LEDs, das ist dummes Zeug und kostet zu viel. Was sie vor allen Dingen brauchen, ist Bildung.“

Ob sich an dieser wichtigen Front jemals etwas ändern wird? So oder so geben die Trainer von Wheel Divas alles – und verschaffen Kindern das nötige Selbstbewusstsein und Können auf dem Fahrrad. Abschließend schildert Sportlehrer Boetius noch seine Lieblingsanekdote: „Ich hatte nach dem ersten BikeFit eine schöne Rückmeldung von einem Jungen gekriegt. Der war unterwegs mit dem Rad und kam in eine blöde Situation im Straßenverkehr: Ein Rennradfahrer kam auf ihn zu, die wären fast kollidiert. Das hätte übel ausgehen können. Aber er hat die Bremstechnik, die er hier gelernt hat, angewendet. Er hat sein Fahrrad gebremst, festgehalten und stand. Der andere Rennradfahrer hat sich gepackt …“ Dank des Unterrichts war der Junge also sicherer unterwegs als der Erwachsene. ■
