Mit ihren 92 Jahren dürfte Vera May zu den wohl ältesten Kinderclub-Mitarbeitern Berlins gehören. Der Club „Zwicke“ in Neukölln jedenfalls gilt als ältester der Hauptstadt und May hat ihn mit aufgebaut. „Haus und Garten füllen mich einfach nicht aus“, sagt sie. Und vor der „Kiste“, wie sie ihren Fernseher nennt, wolle sie auch nicht ständig sitzen, sagt May.
Jeden Freitag bastelt Vera May daher mit ihren jungen Gästen und bringt ihnen Handwerkstechniken bei, die heute nicht mehr viele Kinder lernen. „Frau May bringt das Know-how von gestern mit“, sagt Club-Leiterin Tanja Schleef-Ruppert.

Hoch konzentriert fädelt sie mit Josi (9) und Alina (10) winzige Perlen auf dünne Drähte. Aus jeweils sechs Perlen formen sie Blätter und daraus wiederum Äste. Nach vielen Stunden Arbeit entstehen auf diese Weise Glücksbäumchen, die auf Steinen befestigt werden. Eine Geduldsaufgabe, die die Mädchen mühelos meistern.
Der Bastelraum ist das Reich von May, die gelernte Putzmacherin ist, also einst Hüte anfertigte. Unter den Handarbeiten gehört neben dem Nähen auch die Seidenmalerei zu ihren Steckenpferden – eine Technik, die viele Kinder heute kaum noch erlernen. Club-Leiterin Tanja Schleef-Ruppert freut sich deshalb, dass ihre Mitarbeiterin dieses Wissen weitergibt.
Und die Kinder lieben ihre „Vera“. „Ich freue mich immer auf den Freitag“, sagt Alina, die bei ihr auch schon Nähen gelernt hat. „Jetzt kann ich unsere Nähmaschine zu Hause auch benutzen“, freut sich die Schülerin. „Vera ist immer für mich da und ich kann sie fragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Dann zeigt sie es mir noch einmal“, erzählt Alina.

„Es ist eine wunderbare Verbindung der Generationen“, sagt Schleef-Ruppert. May sei für viele Kinder auch ein Oma-Ersatz, denn manche hätten keine Großmutter mehr oder sie wohne nicht in der Nähe. Auch für die Seniorin sind die Kinder eine Bereicherung: „Es macht einfach so viel Spaß mit ihnen und sie haben immer die besten Ideen.“
Jugendclub im Trümmer-Berlin aufgebaut
Den Club, der in diesem Jahr 76 Jahre alt wird, hat May mit aufgebaut. Ab 1946 errichtete eine Siedlergruppe zunächst einen einfachen Bretterschuppen. Sie habe bei der Versorgung mit Essen geholfen und gekocht, erzählt sie. Etwa 50 Jugendliche gehörten zur Gruppe, die damals noch viel improvisieren musste: Luftschutzbetten wurden zu Tischen und Bänken umgebaut. Die Trümmer der Stadt boten schließlich Material für ein festes Gebäude. 1947 war Grundsteinlegung.

Berlin hat laut einer Sprecherin der Bildungsverwaltung heute 407 Kinder- und Jugendclubs, davon sind 98 in öffentlicher Trägerschaft und werden von den Berliner Jugendämtern finanziert. Letztere werden demnach von etwa 14.000 jungen Menschen besucht.
Die Zwicke ist mehr als ein Kinder- und Jugendclub: Auch die ältere Generation trifft sich hier noch: Immer dienstags kommen May und andere Frauen aus der ehemaligen Müttergruppe zusammen, die sich hier schon vor Jahrzehnten mit ihren Kleinkindern traf.
Arbeiten gegen die Einsamkeit
Wie lange sie nun schon im Club arbeitet, kann May gar nicht mehr so genau sagen. Schleef-Ruppert sei aber schon ihre dritte Vorgesetzte, erzählt sie. Auch die Club-Chefin selbst musste recherchieren und kam zu dem Ergebnis: „Wir sind uns sicher, dass Frau May weit über 30 Jahre bereits Honorarkraft in der Zwicke ist.“
Die Arbeit im Club sei auch ein gutes Mittel gegen Einsamkeit, sagt May. „Hier habe ich immer Ansprache und auch einen guten Kontakt zu den Mitarbeitern“, so die 92-Jährige. Sie hilft auch außerhalb ihrer Arbeitszeit aus, zum Beispiel bei Festen. Beim nächsten Sommerfest am 8. Juni wird sie aber voraussichtlich nicht dabei sein können, denn dann hat sie selbst Geburtstag. ■