Jeden Morgen das gleiche Trauerspiel. Mehrere Eltern stehen irgendwo in Pankow mit ihren Kindern an der Ampel, diese zeigt für Fußgänger Rot. Weit und breit ist kein Auto zu sehen. Immer, wirklich immer findet sich ein Fußgänger, der das Verkehrszeichen missachtet und bei Rot geht.
Ich sehe ältere Damen, die gehetzt um sich blickend und entschuldigend murmelnd über die Straße hasten. Ich sehe lässige Teenagerinnen mit Kopfhörern, die in weiten Jeans über die Straße schlendern. Ich sehe die schuldbewusste Mutter mit Kind auf dem Gepäckträger, die nach hinten zum Nachwuchs ruft: „Eine ganz, ganz seltene Ausnahme, wirklich.“ Ich sehe den Bauarbeiter, den Lastenrad-Fahrer, selbst Greise schlurfen mittlerweile bei Rot übern Damm, nur ich bleibe stehen.
Halten die anderen an der Ampel durch?
Naja, meist bin ich nicht ganz allein. Mit mir warten auch andere noch auf das Signal. In vielen Fällen sind es Eltern mit Kindern, die sich dann und wann hinunterbeugen und wispernd bekräftigen: „Bei Rot bleibe stehen, bei Grün kannst du gehen.“ Manchmal kommt man sich doof vor, wenn lange kein Auto kommt und man vor der leeren Straße steht. Man lauert dann, ob die anderen auch durchhalten, oder doch irgendwann einknicken. In Berlin kommen kaputte Ampeln ja doch hin und wieder vor, hört man. Wenn dann das grüne Signal aufleuchtet, stellt sich ein erleichtertes Gefühl ein. Innerlich erhebt man sich dann ein kleines bisschen über die eiligen Verkehrssünder.
Aber jetzt mal Spaß beiseite, Leute: bin ich total von gestern, wenn ich die gute alte Verkehrsregel weiterhin beachte? Das Leben ist doch stressig genug, ich kann mir nicht vorstellen, dass die paar gewonnen Sekunden an der Ampel den Tag gelungener machen?
Bei Rot stehen bleiben: konforme Trottel
Bei manchen habe ich das Gefühl, dass sie generell mit einer Haltung unterwegs sind, in der sie sich nichts vorschreiben lassen wollen, noch nicht einmal, wann sie an der Straße zu warten haben. Uns brave Gesetzestreue belächeln sie wahrscheinlich innerlich als konforme Trottel, die es verlernt haben, selber zu denken. Ist doch frei, sagen sie. Das mündige Queren der Fahrbahn als Statement.

Von diesem kleinen Beispiel lässt sich ja auch leicht auf größere Zusammenhänge schließen. Regeln, die einem nicht sinnvoll erscheinen, werden zunehmend lässig ignoriert. Fahrrad fahren in der falschen Richtung, Parken auf dem Gehweg, Müll fallen lassen und am Straßenrand abladen. Ich könnte viele Beispiele für die Mikro-Verwahrlosung aufführen, die das Leben in dieser Stadt unattraktiver machen.
Stoppsignal rote Ampel gilt nur noch, wenn es einem in den Kram passt
Diversität heißt eben auch, dass es schwerer ist, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Das Stehenbleiben an einer roten Ampel ist offensichtlich in Berlin nicht mehr common sense, wenn es das je war.
Übrigens: bei Rot über die Straße gehen kostet fünf bis zehn Euro Bußgeld. Wesentlich drastischer wird es, wenn man als Fahrradfahrer die rote Ampel überfährt. Dann drohen Bußgelder zwischen 60 und 180 Euro. Ich habe noch nie erlebt, dass das auch geahndet wurde.
Wie halten Sie es, bei Rot gehen oder sich über die Flitzer, die vor ganzen Schulklassen Rot ignorieren ärgern? Schreiben Sie uns gern. leser-bk@berlinerverlag.com ■