Das KZ Sachsenhausen kann heute besucht werden, bleibt aber ein Ort des Schreckens.
Das KZ Sachsenhausen kann heute besucht werden, bleibt aber ein Ort des Schreckens. Foto: imago/Jürgen Ritter

Angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen: Vor dem Landgericht Neuruppin nordwestlich von Berlin beginnt am Donnerstag der Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen in Brandenburg. Dem 100-jährigen Angeklagten wirft die Staatsanwaltschaft vor, während seiner Zeit im Nazi-Lager von 1942 bis 1945 Beihilfe zur grausamen und heimtückischen Ermordung von Lagerinsassen geleistet zu haben – es geht um Mord in 3518 Fällen.

Dabei soll es unter anderem um die Erschießung von sowjetischen Kriegsgefangenen im Jahr 1942 und Beihilfe zur Ermordung von Häftlingen mit dem Giftgas Zyklon B gehen.

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Im Konzentrationslagers Sachsenhausen herrschte das pure Grauen

In dem Lager, das im Sommer 1936 von Häftlingen aus den Emslandlagern errichtet worden war, waren in der Zeit von seiner Errichtung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert – unter ihnen politische Gegner des NS-Regimes sowie Angehörige der von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppen wie Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, sogenannte Berufsverbrecher und Asoziale.

Zehntausende Häftlinge kamen durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, medizinische Versuche und Misshandlungen ums Leben oder wurden Opfer von systematischen Vernichtungsaktionen der SS.

Rund eineinhalb Jahre lang hatte die Staatsanwaltschaft Neuruppin ermittelt, bis sie Anklage gegen den 100-Jährigen aus Brandenburg erhob.

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Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist ein Wettlauf mit der Zeit 

Immer weniger der Beteiligten an den grausamen Verbrechen des NS-Regimes können heute noch zur Verantwortung gezogen werden. „Es ist ein Wettlauf mit der Zeit“, sagt Thomas Will, Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg.

Nach der Verurteilung des Wachmanns John Demjanjuk im Jahr 2011 wegen Beihilfe zu tausendfachen Morden habe man sich hausintern entschieden, das Thema Vernichtungs- und Konzentrationslager nochmals anzugehen, sagt Will. „Wir suchen in Archiven, bei den Gedenkstätten, stellen Anfragen bei Behörden“, erklärt der Oberstaatsanwalt die Recherche-Arbeit. Mehr als 1,75 Millionen Karteikarten umfasst die Zentralkartei der Stelle – gegliedert in Personen, Tatorte und Einheiten. Den Namen des 100-jährigen Angeklagten habe man bei Recherchen im Militärarchiv in Moskau gefunden. Haben die Dezernenten die notwendigen Informationen gesammelt, geben sie die Verfahren an die zuständigen Staatsanwaltschaften in Deutschland ab.

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18.661 Verfahren wegen NS-Verbrechen sind laut der Zentralstelle seit ihrer Gründung 1958 bei Staatsanwaltschaften und Gerichten in Deutschland anhängig geworden. Allein in diesem Jahr wurden sieben Vorermittlungsverfahren eingeleitet, wie Will sagt. Acht Verfahren lägen bei verschiedenen Staatsanwaltschaften im Land, unter anderem in Hamburg und Celle.

Verfahren soll klären: Was geschah im KZ Sachsenhausen?

Die deutsche Gesellschaft habe Ende der 1950er Jahre das Thema NS-Verfolgung als abgeschlossen betrachtet, sagt Will. „Mit der Entnazifizierung glaubte man, es sei das Wesentliche getan.“ Das habe sich nun grundlegend geändert. „So lange wir noch Betroffene ausfindig machen, ermitteln wir weiter. Mord verjährt nicht“, sagt Will. Es sei der gesetzliche Auftrag der Justiz, diesen Verbrechen der Nazizeit nachzugehen.

In dem Verfahren gegen den 100-Jährigen wird es darum gehen, was in dem Lager in Sachsenhausen geschah - und welche Aufgaben der Angeklagte hatte. „Wovon konnte er wissen? Gab es Möglichkeiten, sich zu entziehen und, wenn ja, hat mein Mandant diese genutzt?“, sagt sein Verteidiger, der Hamburger Strafrechtler Stefan Waterkamp. Laut Waterkamp war der Angeklagte als Wachmann auf den Türmen und im Außenbereich des Lagers eingesetzt.

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Waterkamp kann sich vorstellen, dass es im Prozess wegen des hohen Alters des Angeklagten nicht immer gut gehen wird. „Der gesundheitliche Zustand kann sich jederzeit ändern.“ Ein Sachverständiger hatte den 100-Jährigen für eingeschränkt verhandlungsfähig erklärt. Das Gericht kann nur wenige Stunden täglich verhandeln. 22 Verhandlungstage wurden daher bis in den Januar hinein angesetzt. Für den Angeklagten wird ein Ruheraum eingerichtet.