Vergessene Kinderschicksale

Ein Berliner erinnert sich: Zurück in der Klinik des Grauens

Als Junge sollte André Theuerzeit in Aprath von Tuberkulose geheilt werden. Doch er und viele andere erlebten ein Martyrium: Jahrzehnte später besuchen sie die Krankenhausruine.

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André Theuerzeit vor der Ruine der Klinik Aprath. Der Berliner war eines der letzten Verschickungskinder, die hier Leid erfahren mussten. 
André Theuerzeit vor der Ruine der Klinik Aprath. Der Berliner war eines der letzten Verschickungskinder, die hier Leid erfahren mussten. Oliver Berg/dpa

André Theuerzeit aus Berlin hat sich zu einer ungewöhnlichen Reise aufgemacht. Zusammen mit Frauen und Männern aus allen Teilen des Landes ist er nach Aprath bei Wuppertal (Nordrhein-Westfalen) gefahren, um dort die Ruine einer Klinik zu besuchen.

Sie alle waren vor Jahren schon einmal dort, als sogenannte Verschickungskinder, die in diesem Gebäude von der Tuberkulose geheilt werden sollten. Doch die Klinik war damals nicht nur ein Genesungsort, sondern eine Stätte, in der Theuerzeit und die anderen viele Qualen in ihrer Kindheit erleiden mussten.

Zu ihnen gehört auch Beatrix Hötger-Schiffers. Sie war gerade erst ein Jahr alt, als sie an Tuberkulose erkrankte und im Jahr 1964 nach Aprath kam. Ein Jahr verbrachte das Kleinkind in der Kinderheilstätte für Tuberkulose nahe Wuppertal. Einmal im Monat durften die Eltern sie besuchen. Als die kleine Beatrix mit knapp zwei Jahren nach Hause entlassen wurde, konnte sie, so erzählten es ihre Eltern, nur zwei Wörter sprechen: „so“ und „bös“. Essen sammelte das Kind im Mund und schluckte es dann auf einmal hinunter.

Was in Aprath mit ihr geschah, weiß die inzwischen 60 Jahre alte Beatrix Hötger-Schiffers nicht. Nur kurze Postkarten der Klinik an ihre Eltern („Der Doktor sagt, meine Gesundheit macht Fortschritte.“) und die Entlassungsankündigung für den 4. Juni 1965 („Um pünktliche Abholung wird gebeten.“) sind ihr geblieben. Zu klein war sie für konkrete Erinnerungen an die Zeit in der Klinik. Aber immer hatte sie später bei den jährlichen Lungenuntersuchungen Angst vor weißen Ärztekitteln. Oft musste sie sich als Kind übergeben, wurde dabei sogar ohnmächtig und war sich sicher, sie müsse sterben. Wenn Besuch ging, war sie todtraurig.

Das Hauptgebäude auf dem Gelände der ehemaligen Klinik Aprath steht heute leer.
Das Hauptgebäude auf dem Gelände der ehemaligen Klinik Aprath steht heute leer.Oliver Berg/dpa

Zurück am Ort des Leidens: Berliner geht mit anderen Betroffenen auf Spurensuche

Hötger-Schiffers wird die Klinik Aprath mit anderen Betroffenen besichtigen. Die einstigen Kurkinder wollen für eine Spurensuche an einen Ort zurück, der sie für ihr ganzes Leben gezeichnet hat. Viel werden sie in dem Gebäudekomplex wohl nicht mehr entdecken können, denn die Klinik steht seit Jahren leer und verfällt – Akten gibt es nur wenige. Doch Hötger-Schiffers und die anderen hoffen auf Antworten auf ihre lebenslangen Fragen.

Beatrix Höttger-Schiffers hält auf dem Gelände der ehemaligen Klinik Aprath ein altes Bild in der Hand. Auch sie gehörte zu den Verschickungskindern.
Beatrix Höttger-Schiffers hält auf dem Gelände der ehemaligen Klinik Aprath ein altes Bild in der Hand. Auch sie gehörte zu den Verschickungskindern.Oliver Berg/dpa

Organisiert hat die Ortsbegehung der Verein Verschickungskinder, der das lange vergessene Schicksal von Millionen Kurkindern seit einigen Jahren aufarbeitet. In der Bundesrepublik wurden vor allem zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren und darüber hinaus Klein- und Schulkinder sowie Jugendliche in Kindererholungsheime und Heilstätten „verschickt“. Für die gesamte damalige Bundesrepublik wird die Zahl der in Kuren verschickten Kinder auf mindestens sechs bis acht Millionen geschätzt.

 Wülfrath: Beatrix Höttger-Schiffers zeigt ein Foto von ihr als Verschickungskind. 
Wülfrath: Beatrix Höttger-Schiffers zeigt ein Foto von ihr als Verschickungskind. Oliver Berg/dpa

Trauma: Berliner berichtet von gefürchteten „Tanten“, die mit den Kindern „Strip-Poker“ spielten

Auch die Aufenthalte von kranken Kindern in Spezialkliniken wie Aprath arbeitet der Verein Verschickungskinder auf. Bis in die 1990er-Jahre wurden in Aprath Kinder mit Lungenerkrankungen behandelt.

André Theuerzeit gehörte wohl zu den letzten kleinen Patienten in Aprath und musste noch 1984 mit acht Jahren drei Monate in die Klinik. „Das Gebäude und der Geist, der dort herrschte – ich wollte einfach nur weg“, sagt der 48 Jahre alte Berliner.

Die Kinder seien gezwungen worden, aufzuessen. Als er bockig war, erlöste ihn Stunden später eine Reinigungskraft im Speiseraum und räumte das Tablett einfach weg. „Es herrschte dort eine sehr repressive und autoritäre Atmosphäre, vor allem seitens der Tanten und der Schwestern“, erinnert sich Theuerzeit. „Tanten“, das waren die Betreuerinnen, und sie waren gefürchtet.

Berüchtigt waren die sogenannten Liegekuren. Täglich mussten die Kinder draußen stundenlang mit festgebundenen Schlafsäcken auf Pritschen liegen und durften keinen Mucks von sich geben. Und es kam auch zu sexualisierter Gewalt. Mehr als einmal hätten die „Tanten“ mit den Kindern zwischen vier und 13 Jahren „Strip-Poker“ gespielt, berichtet Theuerzeit. Noch heute müsse er fast weinen, wenn er Bilder aus Aprath sehe.

André Theuerzeit bei seiner Abholung aus der Kinderheilstätte für Tuberkulose 1984. Er gehörte zu den letzten Patienten, die in der Klinik waren.
André Theuerzeit bei seiner Abholung aus der Kinderheilstätte für Tuberkulose 1984. Er gehörte zu den letzten Patienten, die in der Klinik waren.privat/dpa

Die Historikerin Carmen Behrendt hat die Geschichte der 1910 gegründeten Heilstätte Aprath aufgearbeitet. Im System von Vernachlässigung und Gewalt hätten Schwestern und Betreuerinnen „eine zentrale Rolle“ gespielt, schreibt Behrendt. Ehemalige Patienten berichten von Ohrfeigen, Stockschlägen und Strafen, weil sie sich erbrochen oder ins Bett gemacht hatten. Auch sexueller Missbrauch kam immer wieder vor.

Die Klinik war auf ärztlichem Chefposten über die Jahrzehnte „familiengeführt“. Erster ärztlicher Leiter war Georg Simon, 1953 übertrug er den Posten seinem Sohn Kurt Simon, der bis 1988 Chef der Heilstätte blieb. Mit dem Rückgang der Tuberkulose wurde Aprath zunächst in eine Lungenfachklinik und Anfang der 1980er-Jahre schrittweise in eine Altenpflegeeinrichtung umgewandelt. In den 2000er-Jahren wurde das Insolvenzverfahren eröffnet.

Klinik der Qualen: Medikamententests an Kindern

Durch Aprath wird auch ein Schlaglicht auf die Rolle von Kurkindern für die Tuberkuloseforschung und für Medikamententests geworfen. Die Medizinhistorikerin Sylvia Wagner und ihr Fachkollege Burkhard Wiebel recherchierten zum Einsatz sedierender Medikamente und zu Arzneimittelprüfungen in Kindererholungsheimen und -heilstätten. Ihr Ergebnis: In Aprath sei 1956 – ein Jahr vor Markteinführung – das Schlafmittel Contergan beziehungsweise dessen Wirkstoff Thalidomid an Kindern mit Keuchhusten getestet worden.

Auch in einer Kinderheilstätte in Wittlich in der Eifel wurde Patienten demnach Contergan in großen Mengen verabreicht. Der Aprather Chefarzt Kurt Simon habe 1955 auf einem Fachkongress außerdem über die Testung einer Streptomycin-Pantothensäure-Verbindung an 88 wohl an Tuberkulose erkrankten Kindern und Jugendlichen berichtet.

Die Medizinhistorikerin Sylvia Wagner spricht auf dem Gelände der ehemaligen Klinik Aprath mit Betroffenen.
Die Medizinhistorikerin Sylvia Wagner spricht auf dem Gelände der ehemaligen Klinik Aprath mit Betroffenen.Oliver Berg/dpa

Arzneimitteltests an Kindern mit Tuberkulose gab es auch in anderen Kliniken, etwa in der berüchtigten hessischen Heilstätte Mammolshöhe durch den Chefarzt Werner Catel. Er war einer der Haupttäter der NS-Kinder-Euthanasie und erprobte 1947 in Mammolshöhe nicht zugelassene Medikamente, wobei mindestens vier Kinder starben. Die Historiker listen Arzneimittelversuche auch in Kliniken in Hildesheim und Garmisch-Partenkirchen auf.

Warum wollen die einstigen Kinderpatienten viele Jahre später noch einmal nach Aprath? „Ich möchte Fragen stellen und Antworten bekommen“, sagt Theuerzeit. „Wie konnte es sein, dass in den 80er-Jahren noch dieser Geist der schwarzen Pädagogik und Repressionen herrschte? Wie kann es sein, dass es in einem Krankenhaus sexualisierte Gewalt gab?“ Die Historiker Wagner und Wiebel hoffen, dass noch möglichst viele Betroffene gefunden werden und von ihren Erfahrungen berichten, um mehr Licht in das lang verdrängte Thema zu bringen.