Spätestens mit diesem Film gehört die Berlinerin Lena Urzendowsky zur ersten Garde des deutschen Kinos. Die jetzt 23-Jährige hat bereits mehrfach als herausragende Charakterinterpretin brilliert, etwa in der 2021 gestarteten Fernsehserie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und erst jüngst im Kino in der quirligen Fantasy-Komödie „Franky Five Star“. Als Susi vollführt sie in „791 km“ eine tollkühne Gratwanderung zwischen Ulk und Tragödie und spielt sich damit wohl unvergesslich in Herz aller – auf der Leinwand und im Kinosaal.
Von München nach Hamburg im Taxi
Die Geschichte beginnt wie eine 08/15-Krachklamotte (und erinnert an jüngste Ereignisse): Unwetter in München. Alle Züge stehen still. Flugzeuge sind auch keine unterwegs. Vier Menschen wollen am nächsten Morgen unbedingt in Hamburg sein. Mit Humor, Überredungskunst und zunächst nur wenig Charme bringen sie einen Mann am Steuer eines Taxis dazu, sie die anstehenden 791 Kilometer in die Hansestadt zu fahren. Es ist voraussehbar, dass sie sich auf der langen Strecke näherkommen.
Nicht voraussehbar ist, wie das geschieht. Der Drehbuchautor Gernot Gricksch („Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe“) und der Regisseur Tobi Baumann („Der Wixxer“), von dem auch die Idee zum Film stammt, bieten einige Überraschungen. Sie begeistern sowohl mit unvorhersehbaren Wendungen der Story als auch mit stilistischer Feinheit. Am schönsten dabei ist der Wandel des Erzähltons von anfänglicher Brachialkomik zu einer bewegenden Nachdenklichkeit.
Komödie zum Nachdenken
Je länger die Fahrt dauert, umso mehr offenbaren die Beteiligten auch Schwächen. Marianne (Iris Berben), Wissenschaftlerin im Ruhestand, hat sich einer schrecklichen Wahrheit zu stellen. Das nicht sehr glücklich anmutende Paar Tiana (Nilam Farooq) und Philipp (Ben Münchow) muss sich eingestehen, dass alle vorgeführte Selbstsicherheit nicht echt ist. Die scheinbar kindlich-naive Susi (Lena Urzendowsky) lernt, dass sie erst mal zu sich selbst stehen sollte, ehe andere sie annehmen können. Und der Fahrer Joseph sieht sich gezwungen, gleich einen ganzen Sack an Lebenslügen auszupacken.
Kinofilm mit Taschentuchalarm
In einigen stark von widersprüchlichen Gefühlen aufgeheizten Momenten erreicht die über weite Strecken launige Komödie eine erstaunliche Wahrhaftigkeit. Bei vielen im Publikum dürfte mehrfach Taschentuchalarm ausgelöst werden. Doch kitschig wird das nie. Droht das, steuert oft leiser, ab und an auch deftiger Witz dagegen. Die damit effektvoll zwischen Komik und Tragik balancierende Inszenierung schafft es immer wieder, die Untiefen drohender Sentimentalität zu umfahren.

Iris Berben gelingt es in einigen Szenen auf verblüffende Weise, flirrende Albernheit und tiefe Traurigkeit miteinander in Einklang zu bringen. Es sind die kleinen Mittel, die große Wirkung erzielen, hier ein Schweigen, da ein schiefes Lächeln, dort eine fahrige Handbewegung. Alle neben ihr halten aufs Beste mit. Niemand überzieht im Spiel. Selbst wenn der Humor mal vordergründig anmutet, scheint eine sensible Mehrdeutigkeit auf. Das gesamte Ensemble agiert mit souveräner Leichtigkeit.