Ein Visionär geht

Daimler-Legende Edzard Reuter ist tot – seine Träume, sein Vermächtnis

Edzard Reuter, Sohn des legendären Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter und Ehrenbürger der Hauptstadt, ist im Alter von 96 Jahren verstorben.

Author - Michael Heun
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Edzard Reuter ist am 27. Oktober 2024 im Alter von 96 Jahren in Stuttgart gestorben.
Edzard Reuter ist am 27. Oktober 2024 im Alter von 96 Jahren in Stuttgart gestorben.Marijan Murat/dpa

Die Welt hat einen Mann verloren, der nicht nur Daimler, sondern auch die deutsche Wirtschaft nachhaltig prägte: Edzard Reuter, der von 1987 bis 1995 an der Spitze von Daimler-Benz stand und den Autokonzern in eine neue Ära führen wollte, ist am 27. Oktober im Alter von 96 Jahren in seiner Heimat Stuttgart verstorben.

Der Tod des charismatischen Managers erfüllt die Mitarbeiter und Wegbegleiter mit tiefer Trauer. „Wir trauern um eine herausragende Persönlichkeit“, sagte Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius in einer emotionalen Mitteilung. Auch die Helga- und Edzard-Reuter-Stiftung, die das Ehepaar zur Förderung des friedlichen Zusammenlebens in Deutschland gründete, äußerte in einem bewegenden Statement ihre Anteilnahme.

Edzard Reuter, Sohn des legendären Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter und Ehrenbürger der Hauptstadt, wollte Daimler weit mehr als nur ein Automobilhersteller sein lassen. Unter seiner Führung nahm der Konzern ehrgeizige Ziele ins Visier: Weg von den reinen Automobilen, hin zu einem breit aufgestellten Technologie-Imperium. Doch die Welt der harten Geschäftszahlen und die kritischen Analysten ließen seine Träume jäh scheitern.

Daimler: Vom Autobauer zum Technologieriesen? Ein Traum, der zerbrach

Reuter verfolgte einen mutigen Plan: Daimler sollte sich nicht auf das Kerngeschäft beschränken, sondern sich in verschiedene Hightech- und Industriesparten hineinwagen. Der Manager erweiterte den Konzern mit der DASA, einer eigenen Luft- und Raumfahrttochter, und holte namhafte Industriegrößen wie AEG, Dornier und MTU in den Daimler-Kosmos. Sein Konzept, Daimler zu einem führenden Technologieriesen zu formen, erregte weltweit Aufsehen.

Doch die finanzielle Bilanz sah anders aus. Die Risiken und die immensen Investitionen in das Zukunftsprojekt belasteten die Kasse schwer – und schließlich kehrte Daimler wieder zu seinem Kerngeschäft zurück. Für Reuter blieb ein bitteres Erbe: Die Kritiker sahen in ihm den „größten Kapitalvernichter aller Zeiten“, und das ihm anhängende Etikett konnte er bis zu seinem Tod nicht mehr abschütteln.

Daimler-Manager Edzard Reuter: „Wir haben gewaltige Fehler gemacht, keine Frage.“
Daimler-Manager Edzard Reuter: „Wir haben gewaltige Fehler gemacht, keine Frage.“Norbert Försterling/dpa

Reuter, der sich stets treu blieb und zu seinem Kurs stand, verteidigte seine Vision immer mit großem Selbstbewusstsein: „Der grundsätzliche Weg war absolut richtig“, betonte er wiederholt in Interviews. Schon in den 1980er Jahren habe er das Potenzial der Automobilbranche durch die Verschmelzung mit anderen Technologiebereichen erkannt und auf die Umbrüche der Industrie gesetzt. „Wir haben gewaltige Fehler gemacht, keine Frage“, räumte er einmal ein, doch der Weg sei „nach meiner festen Überzeugung der richtige“ gewesen.

Ein Botschafter der Hauptstadt und Mahner der Gesellschaft

Edzard Reuters Bindung zur deutschen Hauptstadt war tief – nicht nur wegen seiner Wurzeln. Der in Berlin geborene Reuter musste 1935 mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten in die Türkei fliehen. Erst nach dem Krieg kehrte er nach Berlin zurück und widmete sich mit Leidenschaft der Stadt, die seinem Vater einst als Bürgermeister anvertraut war. „Berlin trauert um Edzard Reuter, einen großen Freund und Ehrenbürger“, erklärte der amtierende Berliner Bürgermeister Kai Wegner und würdigte Reuters Engagement für die Hauptstadt, das ihm über die Jahre zu einem angesehenen Botschafter Berlins machte.

Reuter liebte Berlin - hier 2008 mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit.
Reuter liebte Berlin - hier 2008 mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit.Peer Grimm/dpa

Reuters Engagement ging jedoch über das Wirtschaftliche und Politische hinaus. Er kämpfte für ein friedliches Zusammenleben und Toleranz – eine Herzensangelegenheit, die er gemeinsam mit seiner Frau Helga in der eigenen Stiftung lebendig werden ließ. Die Helga- und Edzard-Reuter-Stiftung, gegründet 1995, setzt sich bis heute für das gesellschaftliche Miteinander ein. „Wir müssen lernen, dass Menschen, die zu uns kommen, unser Leben bereichern können“, sagte Reuter und betonte die Bedeutung des interkulturellen Zusammenhalts.

Der Manager mit dem Blick über den Tellerrand

Edzard Reuter, studierter Mathematiker und Jurist, hatte schon früh den Ruf eines kritischen Mahners. Seit Jahrzehnten Mitglied der SPD, sprach er oft über soziale Gerechtigkeit und ethisches Wirtschaften. Während seiner Laufbahn und danach machte er sich für Werte stark, die aus seiner Sicht im Kapitalismus zu oft unter den Tisch fallen. Besonders die stark ansteigenden Managergehälter waren ihm ein Dorn im Auge, und er forderte mehrfach eine Obergrenze für die Gehälter von Spitzenmanagern. „Wir brauchen mehr Anstand und Moral in der Wirtschaft“, so seine Forderung.

Sein Fokus auf soziale Verantwortung spiegelt sich auch in den Worten des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, wider. „Mit Edzard Reuter verlieren wir einen mutigen Vordenker mit klaren Werten“, erklärte Kretschmann, und betonte, dass Reuter schon früh die ökologische und soziale Verantwortung eines Unternehmens erkannte und durch alle Widerstände hinweg für seine Ideen kämpfte.

Edzard Reuter: Besonders die stark ansteigenden Managergehälter waren ihm ein Dorn im Auge.
Edzard Reuter: Besonders die stark ansteigenden Managergehälter waren ihm ein Dorn im Auge.Marijan Murat/dpa

Die Jahre danach: Ein Leben abseits des Rampenlichts

Nach seinem Ausstieg bei Daimler zog sich Reuter aus dem operativen Geschäft zurück, doch er blieb mit Herz und Verstand dem Konzern verbunden – in seiner Garage parkte weiterhin ein Mercedes. Seine Neugier und sein Engagement für gesellschaftliche Fragen blieben ungebrochen, ob in seiner Stiftung, durch öffentliche Statements oder in seinen Schriften. Der große Manager und Vordenker beobachtete auch die politischen Entwicklungen in der Türkei und die nationalistischen Tendenzen in Europa mit scharfem Auge.

Besonders die zunehmenden Spaltungen und das Abdriften von Werten bereiteten ihm Sorge. Doch der Optimismus blieb ihm stets erhalten: „Ich glaube an das Gute im Menschen und daran, dass wir die größten Probleme meistern können“, so Reuter in einem seiner letzten Interviews.

Edzard Reuter, Sohn des ehemaligen Berliner Oberbürgermeisters und Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, steht neben dem Gemälde seines Vaters im Berliner Rathaus.
Edzard Reuter, Sohn des ehemaligen Berliner Oberbürgermeisters und Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, steht neben dem Gemälde seines Vaters im Berliner Rathaus.Matthias Schumann/dpa

Ein Vermächtnis, das bleibt

Mit Edzard Reuters Tod verliert Deutschland einen Visionär, der stets daran glaubte, dass wirtschaftlicher Erfolg und ethische Verantwortung Hand in Hand gehen können. Sein Wirken und seine Werte hinterlassen ein Vermächtnis, das über die Automobilindustrie hinausreicht – als Brücke zwischen Welten und Generationen. Seine Ideen, die von vielen verkannt wurden, und sein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen bleiben als Botschaft erhalten. Reuter wird nicht nur in den Erinnerungen der Daimler-Belegschaft weiterleben, sondern in den Werten, für die er bis zuletzt stand. ■