Die Charité, einst Symbol der Nächstenliebe und weltweiten Spitzenmedizin, steht im Schatten eines Skandals. Deutschlands größtes Krankenhaus, eine „Gesundheitsfabrik“ mit vier Standorten in Berlin und rund 20.000 Mitarbeitern, hat im vorigen Jahr 800.000 Patienten ambulant behandelt und 140.000 stationär versorgt – darunter auch Prominente und Politiker. Der Name Charité glänzt international, nicht zuletzt wegen der spektakulären Fälle wie die Rettung des vergifteten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny oder der Arbeit des berühmten Virologen Christian Drosten während der Corona-Pandemie. Doch das Haus ist selbst krank, und zwar sehr.
Hinter der glanzvollen Fassade des 21-stöckigen Bettenhauses, das die Skyline Berlins zwischen Kanzleramt und Hauptbahnhof prägt, tun sich nach Recherchen „Stern“ (Bezahlschranke) und RTL Abgründe auf. Die Klinik, die einst acht Nobelpreisträger wie Robert Koch und Paul Ehrlich hervorgebracht hat und regelmäßig als bestes Krankenhaus Deutschlands gelistet wird, kämpft mit schweren Problemen.
Konkret: Die Charité, gegründet 1710 als Pesthaus von Friedrich I. von Preußen, ist jetzt selbst krank. Schlagzeilen über medizinische Spitzenleistungen sind zur Seltenheit geworden. Stattdessen jagt ein Skandal den nächsten. Ende 2022 wurden alle verschiebbaren Operationen abgesagt, weil unzählige Ärzte und Pfleger krank waren. Kurz darauf der Schock: In einer Berliner Mülltonne wurden Patientenakten mit sensiblen Daten von Krebspatienten der Charité gefunden.
Medizinstudenten der Charité sind völlig überfordert
Ferner: Ein ehemaliger Oberarzt des Herzzentrums wurde wegen Totschlags zu vier Jahren Haft verurteilt. Als ob das nicht genug wäre, meldete die Klinik ein Rekordminus von 134,6 Millionen Euro im letzten Jahr.
Das Reporter-Team von „Stern“ und RTL hat die Missstände seit Januar unter die Lupe genommen. Sie haben mit Patienten, Angehörigen, Ärzten und Managern gesprochen und brisante interne Dokumente eingesehen. Drei Reporterinnen arbeiteten undercover als Pflegepraktikantinnen und erlebten das wahre Chaos hautnah. Das erschreckende Ergebnis: Die Charité, einst eine leuchtende Ikone der Medizin, steht womöglich am Abgrund.

Medizinstudenten im Praktischen Jahr (PJ) seien völlig überfordert und unzureichend auf den harten Klinikalltag vorbereitet, heißt es da. Die Undercover-Recherche deckt auf, dass die angehenden Ärzte in der Klinik oft Aufgaben übernehmen müssen, die eigentlich von voll ausgebildeten Medizinern begleitet werden sollten.
Ein Oberarzt, der als Lehrbeauftragter für eine Station eingetragen ist, verbringt täglich zehn Stunden im Operationssaal – Zeit für die Ausbildung der Studenten bleibt da keine. Das Ergebnis: PJ-ler, die im Alleingang Patienten versorgen müssen und dabei gefährliche Fehler machen. So sollten sie bei einer Patientin die Fäden ziehen, doch das misslang. Die Studenten dachten sogar fälschlicherweise, die Fäden seien von Haut überwachsen. Ein Arzt musste schließlich die Situation retten.
Charité wird von Ärzten und Politikern kritisiert
Nicht das Ende der Schreckens-Pannen: Eine krebskranke Teenagerin wurde aufgrund von Bettenmangel auf einer Station für Mukoviszidose-Patienten untergebracht. Tagelang sah sie keinen Onkologen, bis die Mutter Druck machte. In einem anderen Fall stieg das Fieber eines Patienten auf fast 40 Grad Celsius. Weder Pflegekräfte noch Studenten wussten sich zu helfen, bis endlich ein Assistenzarzt auftauchte. Damit nicht genug: Ein Katheterwechsel führte zu blutigem Urin, und ein Urologe ließ Stunden auf sich warten. Am Ende landete der Patient mit einer lebensbedrohlichen Sepsis auf der Intensivstation.
Die Charité wird inzwischen auch von ihren eigenen Ärzten und Studenten heftig kritisiert. Besonders die PJ-ler protestieren seit Jahren und waren maßgeblich an den Ärztestreiks beteiligt. Während andere Krankenhäuser den arbeitenden Studenten eine Aufwandsentschädigung von rund 400 Euro pro Monat zahlen, gehen die Medizinstudenten an der Charité leer aus. Der Sparkurs, den Vorstandschef Heyo Kroemer verordnet hat, drückt die Klinik immer weiter in die Krise.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) warnte bereits vor einer „Tendenz zu billiger Medizin“, und Berlins Ärztekammer-Präsident Peter Bobbert macht den Senat für die Misere verantwortlich. „Schlechte Arbeitsbedingungen verursachen schlechtere Medizin“, sagte Bobbert dem „Tagesspiegel“ (Bezahlschranke). Laut Bobbert müssen Ärzte die fehlenden Investitionen durch Mehrarbeit ausgleichen, was letztlich die Qualität der medizinischen Versorgung verschlechtert.
Fast 64 Prozent der befragten PJ-ler an der Charité würden die renommierte Universitätsklinik ihren Kommilitonen nicht weiterempfehlen – ein vernichtendes Urteil für eine Klinik, die einst als Aushängeschild der deutschen Medizin galt. Während Berlins Gesundheitssenatorin Ina Czyborra (SPD) und die erweiterte Klinik-Spitze noch schweigen, bleibt die Frage: Wie lange kann die Charité diese Zustände eigentlich überleben? ■