Streit mit Behörden

Kleines Mädchen, großer Kampf: Wenn die siebenjährige Lou hüpft, kann sie sterben

Konflikt um Schulbetreuung: Nun eskaliert der Fall um das Mädchen aus Finowfurt, das an einer sehr seltenen Krankheit leidet.

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Vater und Tochter: Norbert Eschert hilft im Garten seiner Tochter Lou.
Vater und Tochter: Norbert Eschert hilft im Garten seiner Tochter Lou.Emmanuele Contini/Berliner Kurier

Lou liebt Pferde. An ihrer Zimmertür prangt ein Poster von einem Schimmel, im Garten stehen „Blümchen“, „Blueberry“ und „Koki“ – alle aus Holz. Warum? Weil echtes Reiten für Lou lebensgefährlich wäre. Die Siebenjährige leidet an einer seltenen Erkrankung am Kleinhirn – jede Anstrengung, jeder Sturz könnte tödlich enden. Deshalb hat der Vater die Tochter auch im Garten immer im Blick.

Familie Eschert kämpft nicht nur mit dieser Krankheit – sondern derzeit auch mit den Behörden. Denn Lou kann momentan nicht in die Schule. Der Grund: ein Streit um die Betreuung, die sie dort dringend bräuchte.

Was für andere Kinder Alltag ist, kann Lou das Leben kosten: Klettern oder Toben. „Explizit sollen jegliche körperliche Anstrengungen und Gefahren wie Sprünge, Stürze, Klettern, Rollen und Ähnliches verhindert werden“, steht in einem offiziellen Schreiben des Landkreises Barnim.

Drei Jahre lang lief es gut: Lou hatte eine Einzelfallhelferin in der Kita und in der Schule, die auf sie aufpasste. Kein Hüpfen, kein Stolpern, kein Risiko. Doch nun steht diese Hilfe auf der Kippe.

Schulstart verpasst – seit Wochen zu Hause

Seit Beginn des neuen Schuljahres Anfang September war Lou keinen einzigen Tag in der Schule. Der Vater: „Die Weiterführung dieser Hilfe haben wir vorschriftsmäßig bereits im Mai beantragt.“ Doch die Antwort des Landkreises kam spät – und sie war unklar: Statt 40 Stunden pro Woche – wie bisher – ist da auch davon die Rede, dass Lou eigentlich nur noch 27 Stunden benötigt.

„Für uns ist völlig unklar, was dieser Bescheid bedeutet“, sagt Norbert Eschert. Denn 27 Stunden reichen nicht für eine Vollzeitbetreuung. Dann würde der Einzelfallhelfer pro Unterrichtsstunde nur 15 Minuten für eine individuelle Auszeit mit Lou haben.

„Was passiert in der restlichen Zeit? Was macht der Einzelfallhelfer da? Steht er vor dem Klassenraum im Flur?“, fragt der Vater. „Was passiert, wenn Lou genau in dieser Zeit einen Schwächeanfall hat? Uns geht es um Gefahrenabwehr.“

Lou sitzt an ihrem Schreibtisch und löst Mathe-Aufgaben.
Lou sitzt an ihrem Schreibtisch und löst Mathe-Aufgaben.Emmanuele Contini/Berliner Kurier

Zwei dicke Aktenordner liegen auf dem Flurschrank der Familie. Der Schriftverkehr ist sehr langwierig. Der Vater war früher Krankenpfleger, ist aber nun zu Hause: „Wir haben zehn Stunden lang am Computer gesessen und auf sechs Seiten zusammengetragen, was wir problematisch an dem Bescheid finden. So etwas macht man doch nicht aus Spaß.“

Lou ist das fünfte Wunschkind der Familie. Doch bei der Geburt ging vieles schief: Die Kleine lag falsch herum, mit dem Kopf nach oben, im Bauch der Mutter. Die Mutter wollte einen Kaiserschnitt – doch die Ärzte wollten das nicht. So erzählt es jedenfalls der Vater.

Als Lou dann auf der Welt war, habe sie nicht geatmet, musste acht Minuten reanimiert werden. Sie kam einige Tage auf die Intensivstation, sei dann aber als gesund entlassen worden, erzählt der Vater. Dann, im Alter von zwei Jahren, die Diagnose: Chiari-Malformation – eine Fehlbildung am Kleinhirn.

Heute ist die Liste der medizinischen Probleme lang und umfasst elf Punkte – von Epilepsie bis Gedeihstörung. Acht Aktenordner stehen beim Anwalt, erzählt der Vater, und bald soll es einen Arzthaftungsprozess geben.

„Ohne unseren Kampf wäre Lou nie in der Kita gewesen“

Schon 2022 mussten die Eltern um das Recht auf Betreuung kämpfen. Damals sprang die Familie ein: Die älteste Tochter Luisa, gelernte Krankenschwester, gab ihren Job auf und wurde Einzelfallhelferin für Lou. Das lief zweieinhalb Jahre. Dann wurde Luisa schwanger und eine andere Betreuerin übernahm. „Ohne unseren Kampf wäre Lou nie in der Kita gewesen“, sagt der Vater.

Das neue Schuljahr dauert nun schon eine Weile, aber Lou sitzt zu Hause, weil der Streit mit den Behörden läuft. Jetzt ist sie im Garten, fährt auf einem Wagen, der von zweien ihrer Holzpferde gezogen wird. Der Vater schaut zu. „Wir wollen, dass unsere Tochter wieder in die Schule geht“, sagt er. „Wir wollen, dass sie nicht sozial isoliert leben muss.“

Im Garten: Klettergerüste, Rutschen, Pool – ein privater Spielplatz. Warum gehen sie nicht auf einen öffentlichen Spielplatz? „Wenn du deiner Tochter ständig zurufst, was sie alles nicht darf, wirst du von anderen Eltern schief angesehen.“ Deshalb bleibt Lou zu Hause. Wenn sie Freundinnen treffen will, dann kommen die zu ihr. Sie aber geht nicht zu den anderen Familien. Zu groß ist die Angst der anderen Eltern, dass Lou beim Spielen etwas passieren könnte.

Die große Frage: Reicht die Hilfe – oder spart das Amt?

Der Streit, wie lange Lou denn nun betreut werden soll, bringt viele Fragen mit sich: Ist die Familie übervorsichtig? Oder sind die Behörden zu hartherzig?

Stephan Wagner vom Brandenburger Behindertenverband betont, er kenne diesen konkreten Fall nicht und könne dazu nichts sagen. Aber es gebe immer wieder ähnliche Fälle, von denen der Verband erfährt. „Mit Blick auf die schwierigen Fälle kann schon das Gefühl entstehen, dass manchen Betroffenen durchaus Steine in den Weg gelegt werden.“ Gerüchte gibt es immer mal wieder, dass Ämter bestimmte Quoten erfüllen müssen, wie viele Anträge sie streichen sollen. Doch belastbare Beweise? Fehlanzeige.

Lou spielt auch gern mit Familienhund Puschel, der aus einem rumänischen Tierheim stammt.
Lou spielt auch gern mit Familienhund Puschel, der aus einem rumänischen Tierheim stammt.Emmanuele Contini/Berliner Kurier

Doch ein Muster fällt auf: Viele Anträge – wie etwa bei Pflegegraden – werden erst mal abgelehnt. Und erst wenn die Leute dann Widerspruch einlegen, geht es voran. Für Betroffene ein zermürbender Weg.

Im Fall der siebenjährigen Lou verteidigt Landkreissprecher Robert Bachmann die Entscheidung: „Die Leistung ist bewilligt, der Landkreis steht dem Schulbesuch des Kindes nicht im Wege. Voraussetzung ist nun, dass sich alle Seiten einigen.“ Er sagt auch: Die 27 Stunden im Bescheid seien jene Zeit, die Lou laut einem Gutachten zusteht. Dass diese Stundenzahl in den Bescheid geschrieben wurde, sei kein böser Wille, sondern zeige die positive Entwicklung von Lou. Da eine 27-Stunden-Betreuung aber in der Realität nicht machbar ist, bekommt sie nun doch die vollen 40 Stunden.

Doch genau das sorgt bei der Familie für Frust. Der Vater: „Warum stehen dann die 27 Stunden überhaupt drin?“

Eltern fordern Klarheit – oder notfalls Schulpflicht-Aussetzung

Am Dienstag kam es zum großen Gespräch mit allen Beteiligten. Doch es gab keine Einigung. „Wir wollen, dass nicht nur die 27 Stunden offiziell anerkannt werden, sondern der volle Bedarf von 40 Stunden“, sagt der Vater. Er hat sogar die Aussetzung der Schulpflicht beantragt. Ein Schritt, den alle Seiten lieber verhindern sollten.

Im Haus der Familie hängen sehr viele solcher Familien-Sprüche.
Im Haus der Familie hängen sehr viele solcher Familien-Sprüche.Emmanuele Contini/Berliner Kurier

Die Eltern sind erschöpft. Der Vater sagt: „Eine Freundin hat scherzhaft gefragt, was wir eigentlich mit all unserer Zeit anfangen werden, wenn der Streit vorbei ist.“ Seine Antwort: „Dann können wir endlich leben, mit den Kindern rausgehen, spielen – uns mehr um Lou kümmern. So, wie sie es verdient.“

Und Lou? Die sitzt im Zimmer, erledigt Mathe-Aufgaben und rechnet Marienkäfer zusammen. „Mein Lieblingsfach ist Kunst“, sagt sie. Aber da hat sie noch keine Hausaufgaben bekommen. Zur Schule darf sie nicht – aber sie macht fleißig die Aufgaben. Ein starkes Kind. Ein trauriger Fall. Die Siebenjährige kämpft nicht nur mit ihrer Krankheit, sondern ihre Familie auch weiterhin mit der Bürokratie.