Die Zahl der angezeigten und registrierten Stalking-Fälle in Berlin ist nach ersten Einschätzungen im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. „Soweit das im Moment zu beurteilen ist, wird 2023 der Höchststand der letzten zehn Jahre erreicht worden sein“, sagte Wolf Ortiz-Müller von der Beratungsstelle Stop-Stalking.
Nach Angaben der Polizei gab es im Vorjahr 2022 1897 erfasste Fälle. Auch in den vergangenen zehn Jahren blieb die Zahl meist knapp unter 2000.
Stalking – Dunkelziffer liegt weit höher
Genaue Zahlen für 2023 gebe es noch nicht, man erwarte jedoch „mehr als 2000 Strafanzeigen wegen Nachstellung“, so Ortiz-Müller. „Der Trend deutet darauf hin, dass die Zahlen seit 2016 wieder in die Höhe gehen.“ Die Statistik bilde jedoch nur das Hellfeld ab: „Die Dunkelziffer – das wissen wir aus sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien – liegt natürlich um ein Vielfaches höher.“
Seit 2008 bietet Stop-Stalking in Berlin psychosoziale Unterstützung für Opfer und Täter. Die Beratungsstelle wird vom Land Berlin gefördert und arbeitet mit der Polizei und Opferschutzeinrichtungen zusammen.
Cyber-Stalking immer weiter verbreitet
Unerwünschte Kontaktaufnahmen per Telefon, E-Mail oder Messenger-Diensten seien das „Gros der Stalking-Handlungen“, erklärt Ortiz-Müller, doch auch Auflauern und Verfolgen findet häufig statt. Immer weiter verbreitet sei auch das sogenannte Cyber-Stalking. Davon spricht man, wenn Täter Social-Media-Profile ausspähen, Passwörter knacken, Konten hacken oder mit speziellen Trackern ihr Opfer verfolgen. Bilder und Videos des Opfers ohne Zustimmung ins Netz zu stellen, zähle auch oft dazu.
Cyber-Stalking ist für Opfer meist besonders belastend: „Betroffene wissen oftmals nicht, was wo über sie verbreitet wird oder ob sie in einer Art und Weise ausgespäht werden, für die sie keinerlei Wahrnehmung haben“, so der Experte.

Schwierig sei oft auch die strafrechtliche Verfolgung von Stalking. Zwischen einer Strafanzeige und der juristischen Bearbeitung eines Falls dauere es oft Monate bis zu einem Jahr. Stalking zeichne sich jedoch dadurch aus, dass es „Hunderte oder Tausende von Einzelhandlungen“ gebe, die sich in der Zwischenzeit weiter fortsetzen. „Das ist für die Betroffenen unerträglich“, so Ortiz-Müller.
Beratung und Hilfe bei Stalking in Berlin
Umso wichtiger seien niedrigschwellige Beratungsangebote, wie es sie seit kurzem in Berlin gibt. Bei einer Strafanzeige biete man Opfer und Täter Beratungsmöglichkeiten an. „Beide Seiten merken dann, jemand kümmert sich um mich“, sagt Ortiz-Müller. Für den Leiter von Stop-Stalking ist dieser proaktive Ansatz ein „Game Changer“.
Die frühe und engmaschige Unterstützung von Opfer und Täter könne auch das Risiko einer Gewalttat reduzieren. Laut Ortiz-Müller gibt es im Vorfeld von Frauenmorden häufig einen langen Stalking-Prozess. „Das Gefährdungspotenzial, das aus Stalking resultieren kann, ist vielen Beteiligten nicht klar.“
Was tun bei Stalking
In Deutschland sind laut Studien 24 Prozent aller Frauen und 4 Prozent aller Männer einmal im Leben von Stalking betroffen. Rund 80 Prozent der Stalking-Opfer sind Frauen. Und rund 80 Prozent der Täter sind Männer. Oft, aber nicht immer, sind die Täter Ex-Partner oder zurückgewiesene Männer. Mitunter gibt es auch Fremdtäter. Doch wie können Opfer von Stalking die Lage in den Griff kriegen? Sechs Punkte, die wichtig sind.
1. Schnell reagieren
Betroffene sollten umgehend aktiv werden. „Je früher sich Stalking-Opfer wehren und sich Hilfe holen, umso eher wird die stalkende Person die Verfolgungen und Nachstellungen einstellen“, sagt der Kölner Rechtsanwalt Christian Solmecke.
Sein Tipp: Opfer sollten dem Stalker – einmalig – unmissverständlich und klar mitteilen, dass man keinen Kontakt mehr mit ihm möchte. „Das heißt in der Folge auch, dass Opfer den Stalker konsequent ignorieren und sich keinesfalls auf weitere Telefonate, Treffen oder dergleichen einlassen sollten.“
Wichtig ist ferner, das eigene Umfeld wie Familie, Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen einzuweihen und in Kenntnis zu setzen. Ist es ein Arbeitskollege, dann auch den Arbeitgeber informieren. „Denn je mehr Leute Bescheid wissen, desto mehr schreckt dies erfahrungsgemäß Täter ab“, so Solmecke.
2. Beweise sammeln
Eine lückenlose Dokumentation der Stalking-Vorfälle ist Voraussetzung, um gegebenenfalls rechtliche Schritte einleiten zu können. Das bedeutet: Anrufe, Nachrichten und andere Kontaktaufnahmen mit Datum und Uhrzeit dokumentieren.
Dabei kann zum Beispiel die App „NO STALK“ des Opferschutzvereins Weisser Ring helfen, die kostenlos heruntergeladen werden kann. „Die App funktioniert wie ein digitales Tagebuch“, sagt Tim Herrscher vom Weissen Ring. Auf ihr lassen sich Fotos, Videos, Whatsapp-Nachrichten und Sprachnachrichten beweiskräftig sichern und dokumentieren.
3. Anzeige erstatten und gegebenenfalls Anwalt einschalten
Stalking ist eine Straftat – Opfer sollten daher immer Anzeige erstatten. Das ist auch online möglich. Einem Täter oder einer Täterin drohen bis zu drei Jahre Haft oder Geldstrafe.
Je nach Schwere des Falls sollten sich Stalking-Opfer Hilfe bei einem spezialisierten Anwalt holen. Ein Anwalt oder eine Anwältin mahnt den Stalker zunächst ab und erhebt dann eventuell Klage. Oft wird standardmäßig der Erlass einer einstweiligen Verfügung beantragt.
Die einstweilige Verfügung ist die vorläufige Entscheidung eines Gerichts in einem Eilverfahren. So lassen sich dringliche Angelegenheiten regeln, bis das Gericht eine endgültige Entscheidung im Hauptsacheverfahren trifft. „Die einstweilige Verfügung wird meiner Erfahrung nach zum Glück vom Großteil der Täter auch akzeptiert“, sagt Solmecke. Ein Hauptsacheverfahren erübrigt sich dann.
4. Wegen möglicher Kosten nicht auf Hilfe verzichten
Viele zögern damit, einen Anwalt oder eine Anwältin einzuschalten, weil sie eine dicke Anwaltsrechnung fürchten. Aber: Sollte in einem ersten Schritt eine Abmahnung an den Täter geschickt werden, fordern Anwälte in der Regel die Kosten direkt vom Täter – „womit idealerweise die erste Intervention kostenfrei für das Opfer bleibt“, so Solmecke.
Sollte Klage eingereicht werden, müsste das Opfer meist zumindest die Gerichtsgebühren vorstrecken. Allerdings können sie, falls sie nicht genug Geld haben, Prozesskostenhilfe beantragen. Im Erfolgsfall erhielten Opfer die vorgestreckten Gerichts- und Anwaltskosten wieder vom Täter zurück, sagt Solmecke.
Selbst für die anwaltliche Beratung gibt es finanzielle Unterstützung vom Staat – in Form von Beratungshilfe. Diese kann man direkt beim Anwalt oder beim zuständigen Amtsgericht beantragen.
5. Technische Möglichkeiten nutzen
Einen Anrufbeantworter oder eine Mailbox einzurichten, kann hilfreich sein, um sich ein wenig abzugrenzen und Beweise zu sammeln. Parallel dazu kann man sich eine geheime Rufnummer zulegen.
Denkbar ist etwa auch, die Rufnummer oder die E-Mail-Adresse zu wechseln. Das kann für Stalking-Opfer zweifelsohne gut und entlastend sein. Nur könne man andererseits „keine weiteren Beweise sammeln, um gegen den Täter rechtlich vorzugehen“, sagt Herrscher. Noch dazu wird der Täter, wenn er feststellt, dass die Rufnummer oder die E-Mail-Adresse nicht mehr funktioniert, nach neuen Wegen suchen, um das Opfer zu terrorisieren.
Herrschers Tipp: „Das Handy mit der bisherigen Rufnummer einem Rechtsanwalt oder einer Rechtsanwältin geben.“ Ruft der Täter an oder schickt Nachrichten, landen diese Kontaktanbahnungsversuche direkt beim Anwalt – auch das kann abschrecken.
6. Hilfsangebote wahrnehmen
Opfer von Stalking können Hilfsangebote, beispielsweise vom Weissen Ring, in Anspruch nehmen. Das Opfer-Telefon unter der Rufnummer 116 006 ist bundesweit sieben Tage die Woche von 7 bis 22 Uhr zu erreichen – und zwar anonym und kostenfrei. Auch eine Onlineberatung ist beim Weissen Ring anonym und kostenfrei möglich. Zudem gibt es deutschlandweit 400 Außenstellen des Weissen Rings, wo Opfer im direkten Gespräch beraten werden – auch das ist kostenfrei.
Zusätzlich finden sich im Internet Fachberatungsstellen auf kommunaler Ebene. Dafür in einer Suchmaschine die Begriffe „Fachberatungsstelle“, „Stalking“ und den Namen der jeweiligen Kommune eingeben. ■