Prozessbeginn in Berlin

50 Jahre nach der Tat angeklagt: Ist dieser Leipziger Stasi-Rentner ein Mörder?

Manfred N. (80) soll einen polnischen Feuerwehrmann, der in den Westen ausreisen wollte, am Grenzübergang S-Bahnhof Friedrichstraße erschossen haben

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Ex-Stasi-Mitarbeiter Manfred N. (80) ist des Mordes angeklagt. Neben dem Leipziger steht seine Anwältin.
Ex-Stasi-Mitarbeiter Manfred N. (80) ist des Mordes angeklagt. Neben dem Leipziger steht seine Anwältin.Pressefoto Wagner

Als biederer Rentner mit Häuschen lebt er in Leipzig. Doch Manfred N. (80) trägt aus Sicht der Ermittler seit 50 Jahren ein dunkles Geheimnis mit sich herum: Der Ex-Stasi-Oberleutnant steht wegen Mordes vor Gericht. Es geht um den tödlichen Schuss auf den polnischen Feuerwehrmann Czeslaw Kukuczka. Am 29. März 1974 traf ihn am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße, „Tränenpalast“ genannt, ein Schuss in den Rücken.

Der Feuerwehrmann aus Polen (38, verheiratet, drei Kinder) träumte von einer Zukunft in Florida. Er hatte versucht, seine Ausreise nach West-Berlin zu erzwingen. Mit einer Bombenattrappe war er in der polnischen Botschaft aufgetaucht. Stunden später der tödliche Schuss.

Stasi-Rentner Manfred N. (80) bestreitet die Mord-Vorwürfe

Fast auf den Tag genau nun der Prozess gegen den mutmaßlichen Killer. Graues Sakko, weinroter Rollkragenpullover, graues Cap, ein Rucksack lässig über der Schulter: So betrat N. den Gerichtssaal. Das Sprechen überließ er seiner Verteidigerin: „Mein Mandant bestreitet die Vorwürfe. Weitere Angaben macht er derzeit nicht.“

Die Anklage geht davon aus: Der Pole wurde in eine Falle gelockt. Zum Schein sei die Stasi auf seinen Ausreisewunsch eingegangen, habe ihn mit Papieren ausgestattet, zum Grenzübergang gebracht. N. sei als Mitarbeiter der Operativgruppe I des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit mit der „Unschädlichmachung“ des „Terroristen“ beauftragt worden. Er habe von hinten auf Kukuczka geschossen, als dieser den dritten und letzten Kontrollpunkt passiert hatte.

Ein Foto des Feuerwehrmanns Czeslaw Kukuczka, der am 29. März 1974 am Grenzübergang erschossen wurde.
Ein Foto des Feuerwehrmanns Czeslaw Kukuczka, der am 29. März 1974 am Grenzübergang erschossen wurde.Brewer Bob

Jahrelang blieb der tödliche Schuss ungeklärt. Erst 2016 hatte es in dem Fall aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv einen Hinweis zur Identität des mutmaßlichen Schützen gegeben. Erst gingen die Ermittler von Totschlag aus und erhoben keine Anklage. Denn Totschlag wäre verjährt. Dann eine neue Bewertung: Mord, denn der Schuss sei gefallen, als Kukuczka kurz vor dem Grenzübertritt war, er sich sicher fühlte, arglos gewesen sei. N. soll kurz nach dem Schuss einen „Kampforden“ in Bronze erhalten haben.

Eine Zeugin aus dem Westen: „Da ist jemand vor unseren Augen erschossen worden.“

Die Szene gegen 13 Uhr im „Tränenpalast“, wo sich damals Ostdeutsche von ihren Westverwandten nach Besuchen verabschiedeten, oft tränenreich. Eine Schulklasse aus Hessen stand in der Schlange, wollte nach einem Besuch in Ost-Berlin zurück in den Westteil der Stadt. Zwei der damaligen Zehntklässler sind nun im Prozess wichtige Zeugen.

Martina S. (65) hat die Bilder vor Augen: „Wir standen in der Schlange, ein Mann mit Reisetasche hinter mir.“ Uniformierte seien gekommen: „Wir sollten zur Seite gehen, der Mann werde vorgezogen, hieß es.“ Ein schlicht gekleideter Herr, eher Typ Landstreicher. Schnell sei seine Kontrolle gewesen - „er ging dann allein in die Unterführung“.

So sah der Grenzübergang im S-Bahnhof Friedrichstraße, Tränenpalast genannt, aus. Hier ein Bild von 1989.
So sah der Grenzübergang im S-Bahnhof Friedrichstraße, Tränenpalast genannt, aus. Hier ein Bild von 1989.Frits Wiarda/Wikimedia Commons

Ein paar Schritte. Die Augenzeugin: „Hinter ihm von links trat ein Mann in dunklem Mantel heran, ein Schuss, der Mann mit Reisetasche brach zusammen.“ Dann hätten Uniformierte die Türen der Unterführung geschlossen. Martina S. und weitere Schülerinnen fassungslos. Zurück im Westen berichteten sie: „Da ist jemand vor unseren Augen erschossen worden.“ In Hessen informierten sie die Behörden.

Was geschah, blieb in ihrem Kopf: „Wochenlang hatte ich danach von der Szene geträumt.“ Sie sei seit dem Schock-Erlebnis schreckhaft und knallempfindlich: „Als ich dann im Oktober vorigen Jahres in der Zeitung über den Fall las, lief es wie im Film ab.“ Fortsetzung: 4. April. ■