Kommentar

9. November: Tag der Wunden, Tag der Wunder

Statt den Schicksalstag der Deutschen zu beschwören, sollten wir alle den Tag in den Dienst der Demokratie und der Menschlichkeit stellen.

Author - Stefanie Hildebrandt
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Passanten gehen nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 an einem  zerstörten Schaufenster eines jüdischen Geschäfts vorbei. 
Passanten gehen nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 an einem zerstörten Schaufenster eines jüdischen Geschäfts vorbei. imago/United Archives International

Der 9. November gilt den Deutschen als Schicksalstag. Ein Tag, an dem sich schon oft die Geschicke des Landes gewendet haben. Ins Dunkle, wie ins Licht.

Was am 9. November geschah war nicht schicksalshaft

Der Hitler-Putsch vor 100 Jahren und die Pogrome des 9. November 1938, stehen in direktem Zusammenhang mit dem 9. November 1918, an dem Philipp Scheidemann erst die sozialistische, und wenig später Karl Liebknecht die sozialistische Republik in Deutschland ausrief. Jahrzehnte nach einem Leben mit dem Eisernen Vorhang fiel am 9. November 1989 die Mauer.

Schicksalshaft war jedoch keines der Ereignisse. Wäre der 9. November ein Schicksalstag, hieße das, wir hätten es nicht in der Hand. Geschichte käme unabwendbar über uns. Aber so ist es nicht. Revolutionen und Zeitenwenden wachsen auf dem Boden, den wir alle bereiten.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 strömen die Menschen über einen Grenzübergang nach West-Berlin. 
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 strömen die Menschen über einen Grenzübergang nach West-Berlin. dpa

Mich mahnt der 9. November daran, dass es wichtig ist, nicht schicksalsergeben der Dinge zu harren, die da kommen. Sondern mit wachem Verstand und offenem Herzen für die Menschlichkeit einzustehen. Wir sind nur so lange Spielball derer, die auf Gewalt, Hass und Spaltung setzten, wie wir deren Spiel mitspielen.

Für Demokratie einstehen, auch wenn es anstrengend ist

Wir alle haben es in der Hand, in Tagen, in denen jüdische Berliner wieder Angst in unserer Stadt haben müssen, Zeichen gegen den Hass zu setzen. Wir alle haben es in der Hand, für eine bedrängte  Demokratie, die 1989 von den Menschen in der DDR friedlich errungen wurde, einzustehen, sie einzufordern, auch wenn das anstrengend ist. 

In Gesprächen in der Kneipe, mit einer Kerze vor der Synagoge, mit einem Lächeln für Fremde im Vorübergehen, mit Taten statt der vielen Worte, die an diesem 9. November wieder gesagt werden. 

An der jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße stehen Kerzen und ein gestricktes Bildnis der Flagge Israels zum Gedenken an die Opfer des Terrorangriffs der Hamas. 
An der jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße stehen Kerzen und ein gestricktes Bildnis der Flagge Israels zum Gedenken an die Opfer des Terrorangriffs der Hamas. Paul Zinken/dpa

Lasst uns den 9. November zu dem Tag machen, an dem wir uns unserer Verantwortung bewusst sind und unsere demokratischen Spielregeln feiern: Zuhören, Fragen stellen, Debattieren, ohne Gewalt Wandel herbei führen, wo er den Menschen nutzt. Der 9. November war alles: Tag der Gräuel und Tag des Glücks. Tag der Wunden und Tag des Wunders der friedlichen Wende. Der Spielraum menschlichen Handelns wird an diesem Tag wie unter einem Brennglas sichtbar. Unser Schicksal? Wir haben es selber in der Hand.