107 Körperverletzungen

Die Verrohung der Sitten: Immer mehr Gewalt in Berliner Arztpraxen

Immer mehr Mediziner haben Angst vor aggressiven Patienten und denken darüber nach, aufzuhören. Das zeigen Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung.

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In immer mehr Arztpraxen eskaliert die Gewalt, allein 107 Mal kam es im vergangenen Jahr zu Körperverletzungen durch Patienten.
In immer mehr Arztpraxen eskaliert die Gewalt, allein 107 Mal kam es im vergangenen Jahr zu Körperverletzungen durch Patienten.Joseffson/imago

Es gibt inzwischen Arztpraxen in Berlin mit Sicherheitspersonal, mit Funknotrufklingeln und griffbereitem Pfefferspray. Die Gewalt aufgebrachter Patienten in den Rettungsstellen Berliner Krankenhäuser hat schon Schlagzeilen gemacht: Innerhalb von fünf Jahren stieg die Zahl der Polizeieinsätze in und vor Kliniken um 40 Prozent. Aber auch in den ganz normalen Arztpraxen eskaliert die Situation immer häufiger, wie aus einer neuen Befragung der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV) hervorgeht.

Das Personal wird mit schweren Gegenständen beworfen, es geht um Stalking und Telefonterror. Allein im vergangenen Jahr erfasste die Polizei  945 Straftaten in Arzt- und Zahnarztpraxen – dabei ging es in 107 Fällen um Körperverletzung. Wegen Beleidigungen rückten die Beamten 72 Mal aus. In 59 Fällen handelte es sich um Sachbeschädigung, in 55 Fällen um Nötigung und Bedrohung.

Drohgebärden, Herumbrüllen, in die Ecke drängen

Erschreckend: Nur knapp zehn Prozent der von der KV befragten Mediziner gab an, im vergangenen Jahr keine aggressiven Verhaltensweisen von Patienten erlebt zu haben. 33 Prozent meldeten häufige Gewaltvorfälle, in knapp zehn Prozent der Arztpraxen eskalierte die Situation sogar sehr häufig. Erfasst wurden dabei verbale, körperliche und psychische Gewalt – zum Beispiel Stalking –, aggressives Anrufverhalten sowie digitale Aggression, unter anderem Beleidigungen oder Drohungen per E-Mail oder SMS.

Die befragten Mediziner berichten von Sachbeschädigung („Schriftzug ‚Impfen tötet‘ an die Praxis gesprüht“), Beschimpfungen des Personals, Drohgebärden, Herumbrüllen vor Wut bis hin zu körperlichem Bedrohen und in die Ecke drängen. Acht Prozent wurden während ihrer Arbeitszeit schon einmal Opfer von körperlicher Gewalt – 81 Prozent haben verbale Gewalt erlebt, über die Hälfte der Befragten wurde bereits am Telefon von aggressiven Patienten beleidigt oder bedroht.

Die spürbare Verrohung der Sitten ist auch bei den Helfern in Weiß angekommen. In knapp einem Drittel der Praxen passiert es ein- bis zweimal pro Woche, dass sich Patienten dem Praxisteam gegenüber aggressiv verhalten. Fast ein Viertel der Befragten antwortete: mehrmals im Monat beziehungsweise mehr als fünfmal pro Monat. Dass Patienten täglich aggressiv gegenüber dem Praxisteam werden, gaben rund 15,2 Prozent der Befragten an. Nur gut acht Prozent der Befragten gaben an, keine Angst zu haben.

Mit diesem Zettel bittet das Team einer Arztpraxis um Anstand und Respekt.
Mit diesem Zettel bittet das Team einer Arztpraxis um Anstand und Respekt.C3 Pictures/imago

Die Folge: Die Arztpraxen rüsten auf. Nur in einem Drittel gibt es laut der von der KV befragten Mediziner bisher überhaupt keine Sicherheitsmaßnahmen. 20 Prozent der Arztpraxen verfügen über Alarmsysteme und Notfallpläne, 36 Prozent haben einen Rückzugsraum für den Notfall, 37 Prozent festgelegte Fluchtwege. Knapp neun Prozent der Mediziner haben sogar ein Codewort für Gefahrensituationen vereinbart.

Den Job aufgeben: Darüber denkt ein Viertel der Mediziner nach

Drei Viertel der befragten Ärzte, Psychotherapeuten und des medizinischen Personals geben an, dass sie das aggressive Verhalten der Patienten als belastend empfinden, 14 Prozent macht es krank. Ein Mediziner berichtete in der Umfrage, dass er sich durch die Polizei und in Workshops in deeskalierendem Verhalten schulen lässt. Rund 63,4 Prozent der Befragten ziehen Konsequenzen und haben Unruhestiftern Hausverbot erteilt.

Eine Konsequenz würde alle Berliner treffen: Mehr als ein Viertel (28,57 Prozent) der befragten Mediziner denkt darüber nach, den Job aufzugeben.

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