Das Radsport-Idol wird 90
Täve Schur: Was macht diesen Mann zum Superstar?
Gustav Adolf Schur war nicht nur zweimal Straßen-Weltmeister der Amateure und neunmal DDR-Sportler des Jahres, er ist auch heute noch der Sportsmann schlechthin. Er fühlt sich wie 70, klingt wie 60 und will jetzt 100 Jahre alt werden.

Es sollte sich auch am Dienstag nichts geändert haben in diesem etwas verschlafenen Örtchen nahe Magdeburg. Dann nämlich, wenn der berühmteste Bürger der Gemeinde Heyrothsberge morgens aus seiner Haustür tritt und nach unten schaut.
Zu seinen Füßen sollte eine Torte abgestellt sein. Um genau zu sein: eine Quarktorte. Einfach so und wie immer seit zehn Jahren am 23. Februar. Weil es sein Geburtstag ist. Diesmal immerhin der 90. Es ist der Geburtstag von Gustav Adolf Schur, der Radsportlegende aus der DDR. Es ist der Ehrentag von Täve Superstar.

Torte ohne viele Worte
„Die Uhr kann ich danach stellen, dass die Torte da ist“, erzählt Täve. „Jetzt wäre ich fast schon ein wenig enttäuscht, wenn keine da wäre. Na ja, es ist ja auch Corona, da muss man gerade in meinem Alter besonders aufpassen, da bin ich pingelig. Aber ganz am Anfang, als das mit der Torte noch neu war, bin ich doch fast mal reingelatscht.“ Er lacht darüber, weil er oft lacht und von seinem Humor auch im hohen Alter nichts eingebüßt hat.
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Peinlich ist ihm das trotzdem ein wenig, selbst heute noch, weil die Torte von einer ganz lieben Bekannten kommt, von der Frau von Horst Schäfer, dem Leiter des Friedensfahrtmuseums in Kleinmühlingen, das Täve sehr am Herzen liegt.
Ritter der Landstraße
Dieses Museum erinnert an alte und erfolgreiche Zeiten und ist so etwas wie das Wachhalten einer Tradition, die ganz eng mit den damaligen Rittern der Landstraße verbunden ist. In diesem Fall eben mit Täve Schur, ohne den es dieses Museum, in dem ab und an die legendäre Friedensfahrtfanfare, für die dortigen Oldies ein regelrechter Ohrwurm, ertönt, nicht geben würde.
Neun Jahrzehnte ist dieser Held nun alt, dieses Idol ganzer Sportlergenerationen im Osten Deutschlands. Einen größeren Sportler als ihn hat es in der DDR nicht gegeben. Zweimal, 1958 in Reims und 1959 in Zandvoort, ist dieser Gustav Adolf Schur Straßenweltmeister der Amateure geworden.

Die WM für den Freund
Den WM-Hattrick hat er 1960 auf dem heimischen Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal mit einer taktischen Meisterleistung für seinen Teamkameraden Bernhard Eckstein geopfert und ist dennoch Zweiter geworden.
Hoch, ganz hoch angerechnet haben sie ihm das, weil Eckstein ihm zuvor in vielen Rennen geholfen hatte. „Ecke ist mein Freund gewesen“, erinnert Schur sich, „da habe ich nicht lange überlegen müssen, um ihm die Möglichkeit für diesen Triumph zu geben.“
Weil er so ist wie er ist, hat er sich immer auch für andere eingesetzt. Auch politisch, so gehörte er der Volkskammer, dem Parlament in der DDR, an, ebenso war er nach der Wende Abgeordneter für die Linke im Bundestag.
Verwehrter Ruhm
Das mit der Volkskammer nehmen ihm manche heute noch krumm, deshalb auch grenzen sie ihn noch immer bei der Aufnahme in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aus. „Ach“, sagt er, „sollen sie doch. Damit können sie mich nicht mehr ärgern.“
Dabei ist er einer der Größten, einer der Stolzesten und einer der Herausragendsten sowieso. Ein ganz Großer war Täve lange vorher schon, lange bevor ihm jemand am Zeug flicken wollte. Zweimal hatte er im Gelben Trikot bei der Friedensfahrt, für viele so etwas wie die Tour de France für Amateure, als Einzelsieger triumphiert, zu Mannschaftserfolgen hat er das DDR-Team als Kapitän geführt, unzählige Rennen gewann er und noch viel mehr Sympathien für seine sportliche Extraklasse und für seine nahezu heldenhafte Fairness.

„Alles Täves, alles Täves, alles Täves“
Neunmal ist Schur DDR-Sportler des Jahres geworden und 1989 haben die Leser der Jugendzeitung Junge Welt ihn zum „Populärsten DDR-Sportler aller Zeiten“ gewählt. An Popularität war Täve nicht zu überbieten.
Als mein Vater Mitte der 1950er-Jahre, wir waren noch in Polen, in Oberschlesien, zu Hause und ich ging noch nicht zur Schule, mich mitnahm, um die Friedensfahrer auf einer ihrer Etappen, die in der Nähe unseres Heimatortes vorbeiführte, zu erleben, war ich hin und weg. Auf die Frage meiner Mutter, wen ich denn alles so gesehen hätte, antwortete ich begeistert: „Alles Täves, alles Täves, alles Täves.“
„Manchmal staune ich selbst, was ich erreicht habe“, erzählt Täve „und muss für alles dankbar sein. Auch dafür, die ersten 90 Jahre meines Lebens so gut überstanden zu haben.“
Wettfahrt mit dem Bus
Angefangen hat er seine Rennen, indem er sich mit dem Linienbus gemessen und den bald abgehängt hat. Einst, lange vor dem Mauerbau, ist er von seinem Zuhause mit dem Fahrrad ins damalige Westberlin gefahren, um sich einen sportlichen Lenker zu kaufen.
150 Kilometer hin, eine Banane gegessen und eine Limonade getrunken, 150 Kilometer zurück. An einem Tag. In einem Ritt. „Da war selbst ich platt“, sagt er, „aber geschadet hat es mir nicht.“
Fit ist der Jubilar noch immer, fast so wie der sprichwörtliche Turnschuh. „Na ja“, wehrt er ab, „ganz so ist das trotzdem nicht mehr. Im Winter fahre ich kaum noch Rad, das Wetter ist nicht gut für meine alten Knochen, Kämpfer.“

Herbert Köfer als Ansporn
Das Wort „Kämpfer“ benutzt er oft, es ist fast wie ein Ritterschlag für seinen Gegenüber. Vielleicht aber auch, weil ihn jeder kennt und er jeden kennt und weil er so viele kennt, mag er manchmal nicht gleich auf den Vornamen kommen. Na gut, bei den vielen Menschen und in diesem Alter …
„Also, Kämpfer“, grinst er sich eins, „langsam muss ich mir überlegen, ob ich mir ein Dreirad zulege, sonst lande ich noch irgendwann im Straßengraben.“ Weil ihm das niemand glaubt und weil Täve auch mit 90 nicht vom Rad fällt, lenkt er lieber ein: „Im Frühjahr, im April und im Mai, bin ich ja doch wieder unterwegs. Schließlich will ich 100 werden, denn ich habe noch viel zu tun und noch viel vor und der Herbert Köfer hat es ja auch gerade geschafft.“
Vier Kinder, sieben Enkel
Alles wie immer ist es aber dann doch nicht. Etwas Gravierendes hat sich verändert in Täves Leben. „Am 10. Mai vorigen Jahres ist meine Frau gestorben“, sagt er, sein Jahrgang und nur wenige Tage auseinander waren sie gewesen, er und Renate, seine Reni, die ihr ganzes Leben an seiner Seite verbrachte und mit der er 58 Jahre verheiratet war.
Vier Kinder haben sie, die Töchter Gusti und Susanne und die Söhne Jan und Gus-Erik, beide als Radrennfahrer in die Fußstapfen des Vaters getreten und wo Jan bei Olympia, als er 1988 in Seoul im Mannschaftszeitfahren Gold gewann, den Papa überflügelte, der mit der Mannschaft 1956 in Melbourne und 1960 in Rom „nur“ Bronze und Silber gewonnen hatte.
Sieben Enkelkinder gehören zur Familie, „alles richtig tolle Mädels und Jungs“, schwärmt Täve in der Rolle des Großvaters, „nur an einen Urenkel hat noch niemand gedacht, so einer fehlt mir noch“.

Eierkuchen, Kartoffelsuppe, Milchreis
Als wir telefonieren, ist Gusti gerade bei ihrem Vater, aus Berlin ist sie gekommen, um ihm unter die Arme zu greifen. „Das ist nett, dass sie kommt“, meint Täve. „Ich bin richtig froh darüber, jetzt zum Geburtstag. Ansonsten lasse ich, obwohl viele hätten kommen wollen, keinen rein. Außerdem bin ich ganz gut selbstständig. Eierkuchen kriege ich hin, eine kräftige Kartoffelsuppe auch und Milchreis sowieso. Im Garten beschäftige ich mich, so oft es geht. Der hält mich zusätzlich fit. Und jetzt, Kämpfer, muss ich hinmachen. Ich habe einen Kaminofen und muss von draußen ein paar Scheite holen und nachlegen, damit es mollig warm bleibt bei mir.“
So einer wie Täve, der gerade 90 wird, sich wie 70 fühlt und wie 60 klingt, schafft, die Quarktorte nicht zu vergessen, garantiert auch die 100. Herzlichen Glückwunsch!