So ging eine deutsche Mannschaft wohl noch nie in ein großes Turnier. Bundestrainer Julian Nagelsmann hat die Startelf vor dem Auftakt heute gegen Schottland schon längst preisgegeben. Die Rollen sind klar verteilt. So klar, dass die meisten auch eine zweite Chance bekommen würden. Außer vielleicht Ilkay Gündogan. Der Kapitän darf gegen die Schotten gar nicht geizig sein.
Auf dem Mannschaftsfoto saß Gündogan neben Leroy Sané und Marc-André ter Stegen in der ersten Reihe. Die Position im Vordergrund muss der Musterprofi des FC Barcelona wie kaum ein anderer heute mit Leistung und vor allem Führungsstärke unterfüttern.
Im reifen Alter von 33 Jahren wird Gündogan die Nationalmannschaft erstmals als Kapitän in ein Turnier fühlen. Trotz der prominenten Rolle wird bereits über Gündogan diskutiert. Taugt er zum Leader, der Deutschland zum Titel führt?

Nur wenige Länderspiele sind in Erinnerung, die Gündogan prägen konnte
77 Mal ist Gündogan seit seinem Debüt am 11. Oktober 2011 beim 3:1 in Düsseldorf gegen Belgien für Deutschland aufgelaufen. Nur wenige Länderspiele sind in Erinnerung geblieben, die er prägen konnte. Geschweige denn Turniere. Mit der Diskrepanz zwischen Erfolgen und dem Star-Status als Vereinsspieler sowie der häufigen Mitläufer-Rolle im Nationaltrikot musste sich Gündogan schon öfter auseinandersetzen.
Die DFB-Karriere meinte es bislang nicht gut mit ihm. Er fehlte meist, wenn es gut lief. Und er war dabei, wenn es schiefging. „Gerade die Ergebnisse der letzten Jahre waren nicht so prickelnd“, sagt Gündogan. „Ich bin schon seit der EM 2012 dabei. 2014 sind wir Weltmeister geworden, da war ich leider verletzt.“ Sonst wäre er neben Manuel Neuer, Toni Kroos und Thomas Müller der vierte Rio-Held im Aufgebot. „Seit 2018 hatten wir jetzt drei Turniere, wo wir richtig schlecht waren.“ Und bei seiner Vita werde der Unterschied zwischen Vereins- und Auswahlerfolgen „einfach ein bisschen klarer“.

Leroy Sane sitzt Gündogan im Nacken, drängt in die Startelf
Gündogan ist keiner, der auf dem Platz rumbrüllt, Gegner weggrätscht oder sich vor dem Schiedsrichter aufplustert. Gündogan ist ein leiser Kapitän, der durch Leistung führen will. Durch die Rückkehr von Toni Kroos verschob der Bundestrainer ihn aus dem Mittelfeldzentrum von der Sechs weiter nach vorn auf die Zehner-Position, zwischen die Jungstars Jamal Musiala und Florian Wirtz. Gündogan soll die „Zauberer“ zum Glänzen bringen. Und im Hintergrund lauert Leroy Sané, der in die Startelf drängt. Nur wenn sich Kroos und Gündogan in ihren jeweiligen Revieren ergänzen, ist alles gut.
Nagelsmann weiß, dass er vorn einen Ordnungshüter braucht, der die Jüngeren lenkt und anleitet. „Ilkay ist ein Spieler, der uns viel Rhythmus geben kann. Er gibt uns Ruhe, Struktur und er kombiniert viel mit einem Kontakt in der roten Zone. Wir werden Spiele haben, wo wir einen Rhythmusgeber vorne brauchen.“
Ein Freifahrtschein durchs Turnier ist das aber nicht. Das weiß auch Gündogan, der nach „einer der härtesten Saisons meiner Karriere“ beim FC Barcelona müde in die Vorbereitung gestartet war. Aber jetzt muss er liefern gegen Schottland, Ungarn und die Schweiz. Er ahnt, dass die Kapitänsbinde keine Einsatzgarantie ist. „Der Fußball hat sich verändert. Er ist nicht mehr so strukturiert, dass man sagt, der Kapitän muss immer spielen. Dafür ist die Leistungsdichte einfach zu groß.“
Gündogan ist nicht unantastar
Gündogan ist nicht unantastbar. Sein Ego stellt er aber nie über den Teamerfolg. Musiala und Wirtz kennen nach mehreren Länderspielen in der neuen Offensiv-Konstellation den Wert des zwölf Jahre Älteren. „Ilkay ist ein Connector mit uns. Er hat die Verantwortung, auch gegen den Ball“, sagt Musiala. Wirtz bezeichnete den Kapitän ebenfalls als „Verbindungsspieler“, der die Jüngeren „mit seiner Erfahrung gut unterstützen kann“.