In den letzten Tagen kursierte in den sozialen Medien ein Video, das viele schockierte. In dem Podcast „Therapuss“ erzählte Glen Powell, bekannt aus „Top Gun: Maverick“, von einer Freundin seiner Schwester. Ihr soll Folgendes passiert sein: Sie war auf einem Date mit einem Mann, der sie schließlich zu sich nach Hause einlud. Er bot ihr eine Schultermassage an, sie stimmte erst zu, brach die Massage und das Date dann aber ab, weil sie sich in der Situation unwohl fühlte. Als sie am nächsten Tag aufwachte, juckten ihre Schultern. Sie ging sofort zum Arzt, der ihr nach ein paar Tests das schockierende Ergebnis mitteilte: Ihr Date hatte sie am Vortag mit einer Lotion massiert, die man nur auf dem Schwarzmarkt kaufen kann und mit der Kannibalen menschliche Haut zum Verzehr geeignet machen.
Gruselig, oder? Das dachten sich auch viele Nutzer auf Social Media. Anderen, wie mir, kam die Geschichte seltsam bekannt vor – und zwar nicht, weil sie wirklich passiert ist. Als Digital Native, die die frühen Zeiten des Internets miterlebt hat, war mir sofort klar, dass Powell hier auf eine „Creepypasta“ hereingefallen ist – eine Internet-Gruselgeschichte.
Creepypastas sind Gruselgeschichten aus den Urzeiten des Internets
Zur Erklärung muss ich Sie kurz in die frühen 2000er-Jahre entführen: Social Media gab es noch nicht, und das Internet war das große Unbekannte. Das war irgendwie ein bisschen gruselig: Niemand wusste, worauf man stoßen könnte oder welche mysteriösen Gestalten dort herumirrten. Es war die perfekte Atmosphäre, um sich wie am Lagerfeuer Gruselgeschichten zu erzählen.
Creepypastas, zusammengesetzt aus „creepy“ („gruselig“) und „copy and paste“ („kopieren und einfügen“), sind Gruselgeschichten, die durch Kopieren weitergegeben wurden. Die Geschichten sind häufig angeblichen Freundesfreunden des Erzählers passiert – irgendwem, der zwar zu seinem persönlichen Umfeld gehört, aber ihm nicht nahe genug steht, als dass man von ihm erwarten würde, sich an Einzelheiten zu erinnern. Durch die Anonymität im Internet konnte jeder erzählen, was er wollte. Wer sollte es schon überprüfen?
Social Media und Google und das damit einhergehende Gefühl, alles über jeden zu wissen, haben Creepypastas größtenteils in der Versenkung verschwinden lassen. Darum wissen Menschen, die damals nicht oft im Internet waren, häufig nicht, was es ist – und so kommen wir an den Punkt, dass ein berühmter Hollywoodstar im Jahr 2024 eine Creepypasta erzählt.
Props to my little sister’s friend who told her this dating story…I’ve been telling this for years. I’m questioning my whole life now…
— Glen Powell (@glenpowell) June 11, 2024
False alarm.
Back rubs are back. https://t.co/LhdeBjRJRc
So können auch Sie Creepypastas erkennen
Vielleicht haben Sie so eine Gruselgeschichte auch schon mal gehört, ob im Internet oder im echten Leben: Es ist die Geschichte einer vermeintlich wahren Erfahrung eines entfernten Bekannten, die irgendwie zu gruselig klingt, um wahr zu sein. Vielleicht ist derjenige knapp einem Serienmörder entkommen oder hat merkwürdige wissenschaftliche Experimente miterlebt. Hatten Sie im Anschluss das Gefühl, dass die Welt um Sie herum unsicherer ist, als Sie immer dachten? Dann sind Sie eventuell auf eine Creepypasta hereingefallen.
Creepypastas leben davon, dass niemand zu sehr hinterfragt, was da erzählt wird. Nehmen wir die Geschichte mit dem vermeintlichen Kannibalen. Die klingt oberflächlich erst mal plausibel. Doch dann guckt man sie im Detail an und fragt sich zum Beispiel: Warum sollte ein Kannibale so eine Lotion verwenden, wenn doch jeder weiß, dass man menschliches Fleisch auch so essen kann? Und wieso bei einer lebenden Person? Und welche Tests soll der Arzt da durchgeführt haben?
Glen Powell teilte wenige Tage nach dem Interview auf seinem Twitter-Account einen Artikel, der seine Geschichte richtigstellte, mit den Worten: „Ich hinterfrage jetzt mein ganzes Leben ...“ So weit hätte es bei ihm nicht kommen müssen, wenn er sich mit Internetkultur auskennen würde.
Jana Hollstein schreibt immer dienstags für den KURIER über die große weite Welt des Internets. Mails an wirvonhier@berlinerverlag.com ■