Zu viel, zu wild, zu laut - wer sich in der Teufelsspirale Stress befindet, kann damit auch seine Mitmenschen anstecken.
Zu viel, zu wild, zu laut - wer sich in der Teufelsspirale Stress befindet, kann damit auch seine Mitmenschen anstecken. Foto: imago stock&people

Ein Vorstellungsgespräch bei einem neuen Arbeitgeber, eine schwierige Matheaufgabe lösen vor den kritischen Augen des Professors - das stresst wohl jeden. Aber wie sieht es aus, wenn Sie Ihren Partner dabei beobachten müssen, einer solch stressigen Situation ausgesetzt zu sein? Was macht das mit Ihnen?

Vermutlich mehr, als Sie jetzt denken! Denn Stress ist ansteckend. Besonders dann, wenn uns die gestresste Person nahesteht. Veronika Engert vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig ist eine der Erst-autorinnen einer Studie, die sich genau mit diesem Phänomen beschäftigt. Für die Versuche haben Probanden eine gestresste Person beobachtet - zum Teil direkt durch eine Glasscheibe, zum Teil aber auch indirekt über einen Monitor. Dabei wurde den Probanden in regelmäßigen Abständen Speichel entnommen, um den Wert des Stresshormons Cortisol zu messen.

Persönliche Beziehungen steigern die Ansteckungsgefahr

Das Ergebnis: "Insgesamt haben 26 Prozent der Beobachter, die selbst keinerlei Stress ausgesetzt waren, einen physiologisch bedeutsamen Anstieg von Cortisol gezeigt", verrät Veronika Engert. Der Effekt war besonders stark, wenn Beobachter und gestresste Person eine partnerschaftliche Beziehung verband (40 Prozent). Aber auch bei völlig fremden Menschen sprang der Stress immerhin noch auf zehn Prozent der Beobachter über.

Übrigens scheint die Bezeichnung ansteckend in gewisser Weise irreführend. Denn die empathischen Stressreaktionen konnten proportional ("Stressansteckung") zu den Stressreaktionen der aktiv gestressten Probanden sein, aber auch unabhängig ("stellvertretender Stress"). "Stress multipliziert sich also, wenn auch nicht bei jedem. Aber diejenigen, die unabhängig reagieren, machen sich leider zu viel Stress", meint die Wissenschaftlerin.

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Aber was bedeutet das nun für den Alltag? "Stress ist evolutionär bedingt. Früher hat uns der Bär alle zwei Wochen besucht und gestresst. Danach war erstmal wieder gut. Die Gesellschaft hat sich aber verändert, mittlerweile kommen viele gar nicht mehr heraus aus der Stressmühle. Das ist schlecht", weiß Veronika Engert. "Wenn wir davon ausgehen, dass manche Personen zusätzlich zum eigenen Stress immer dann Cortisol ausschütten, wenn eine Person in ihrem Umfeld gestresst wird, haben diese ein besonders hohes Stresslevel. Da kann schon das einfache Schauen einer TV-Sendung ausreichen."

Casting-Shows seien besonders prädestiniert, auch die Zuschauer zu stressen, aber auch bei Fantasy-Serien wie "Game of Thrones" geschehe dies. "Natürlich weiß der Zuschauer, dass ihm dieselbe Situation nicht wiederfährt, und natürlich weiß er auch, dass das alles ohne reale Folgen bleibt. Allerdings war das bei unserem Versuch mit den Probanden auch so, dass die Szenarien fiktiv waren", sagt Veronika Engert und weist darauf hin, dass die Probanden, die in einer partnerschaftlichen Beziehung standen, in Folge der Studie in ihrem Alltag beobachtet wurden. Auch dort - außerhalb des Labors - wiesen Paare ein stark ähnliches Cortisol-Tagesprofil auf, waren also einfühlsam gegenüber ihrem Partner.

Auch Kinder und Personen, die in Helferberufen - etwa der Pflege oder im Krankenhaus - arbeiten, und damit ständig mit dem Leid anderer konfrontiert sind, neigen besonders dazu, sich von Stress anstecken zu lassen.

Schutzwall gegen Stress aufbauen

Die Expertin rät deshalb, sich einen Schutzwall gegen Stress aufzubauen, sich aber trotzdem nicht abzuschotten, und sich einen innerlichen Spiegel vorzuhalten, also die Vogelperspektive auf eigene und fremde Denkmuster einzunehmen. Ihr Beispiel: In Partner-Übungen, sogenannten kontemplativen Dyaden, tauscht man sich hochkonzentriert über Gefühle aus, um so Nähe, Dankbarkeit, den Umgang mit täglichen Stressoren sowie das Einfühlungsvermögen zu schulen.

"Sich regelmäßig einer fremden Person gegenüber zu öffnen und zu lernen, vorurteilsfrei einem anderen zuzuhören, kann wahrscheinlich zu einer Art sozialer Stress-Immunisierung führen, da sozialer Stress ja vor allem durch die Angst vor negativer Fremdbeurteilung zustande kommt", erklärt Veronika Engert, die auch das in einer Studie untersucht hat. Das Interessante dabei: Subjektiv betrachtet empfanden die Probanden nach eigenen Angaben nach jedem der drei dreimonatigen Trainingseinheiten weniger Stress. Objektiv gesehen, das heißt gemessen an ihrem Cortisolspiegel, ist ihr Stresslevel jedoch lediglich mäßig gesunken.