Jede Kultur geht anders mit dem Tod um. Von den Mexikanern können wir lernen, dass das Ableben unserer Liebsten keine ewige Trauer bedeuten muss.
Am 2. November wird in Mexiko der Tag der Toten gefeiert. Bei dem wichtigsten mexikanischen Volksfest kehren die Verstorbenen aus dem Jenseits für einen Tag zurück und zelebrieren eine rauschende Feier mit den Lebenden. Rund um die Fiesta de Día de Muertos findet in Berlin aktuell ein fünftägiges Event statt – zum ersten Mal im Humboldt-Forum: Bis einschließlich Sonntag gibt es hier Live-Musik, Tanz, Markt und mehr. Jeder ist eingeladen, mitzufeiern. Der Eintritt ist frei. Calaca e.V. veranstaltet das mexikanische Totenfest seit 1995 an wechselnden Orten in Berlin.

Höhepunkt der Veranstaltung ist die feierliche Einweihung der Ofrenda am Tag der Toten. Ein Ereignis, das ich mir nicht entgehen lassen wollte. Die Ofrenda (aus dem Lateinischen offerenda „was angeboten werden soll“) ist das zentrale Element des Totenfests, wie mir die Veranstalter bereitwillig und leidenschaftlich erklären. Es ist ein „Ort der Erinnerung“, eine Art Altar, der mit alt-mexikanischen, katholischen, aber auch modernen Objekten geschmückt ist. Sie ist auch ein „Ort der emotionalen Begegnung“, sie ermöglicht symbolisch die Vereinigung von Abwesenden und Anwesenden.

Beim ersten Anblick des riesigen Altars im Humboldt-Forum bin ich wirklich baff und positiv überrascht: Alles sieht so unglaublich bunt, fröhlich und ästhetisch aus! Das genaue Gegenteil von Altären, wie man sie aus der deutschen Kultur kennt. Die Ofrenda ist über und über mit Blumen in schillernden Farben behängt – in Gelb, Rot und Orange. Damit die Toten den Weg zum Altar besser sehen können, wie ich gelernt habe. Besonders oft ist die leuchtend orangefarbene Cempasúchil, oder auch Flor de Muertos (Blume der Toten) vertreten. Auf die geliebten Verstorbenen warten hier außerdem allerlei Leckereien: Für die Erwachsenen gibt es auf der rechten Seite der Ofrenda jede Menge Essen, aber auch Schnaps und Tabak. Überall stecken bunte Fahnen als weitere Wegweiser für die Verstorbenen.

Süßigkeiten und Spielzeug auf der linken Seite des Altars sind für die verstorbenen Kinder gedacht – die Angelitos, kleine Engel. Es klingt zwar traurig, doch so fühlt sich der Anblick wirklich nicht an. Vielmehr überwiegen lächelnde Skelette und andere fröhliche Abbildungen des Todes. Denn die Fiesta de Día de Muertos ist nicht mit Halloween zu verwechseln ... wobei die Feste vor allem in den USA mehr und mehr zusammengeworfen werden. In Mexiko ist der Tod nichts Gruseliges, niemand soll sich fürchten. Man freut sich vielmehr, einmal Jahr mit seinen Liebsten wiedervereint zu sein. Sowohl vonseiten der Lebenden, als auch der Toten. Ein schöner Gedanke, der mich wirklich tief beeindruckt hat.

Am frühen Abend wird es langsam Zeit für die feierliche Einweihung der Ofrenda. Erst jetzt wird mir klar, wie viele Menschen gekommen sind, um die Zeremonie miterleben zu können: Saal 1 des Humboldt-Forums ist schnell voll, es gibt einen Einlass-Stopp. Die Stimmung ist toll, eine wunderbare Mischung aus andächtiger Stille und Vorfreude. Schließlich werden alle Gäste gebeten, sich auf den Boden zu setzen, damit jeder etwas sehen kann. Das klappt erstaunlich gut und sorgt direkt für ein kollektives Gefühl. Jeder achtet auf den anderen, Fremde schenken sich noch ein freundliches Lächeln.

Dann geht es endlich los: „Wir wollen jetzt den Altar gemeinsam mit euch eröffnen. Nach der Zeremonie seid ihr gerne dazu eingeladen, Kerzen anzuzünden und Fotos aufzustellen und eure Gaben, die ihr heute mitgebracht habt, hierzulassen“, erklären die Veranstalter erst auf Deutsch, dann auf Spanisch. Sie tragen traditionelle mexikanische Gewänder und beginnen direkt vor der Ofrenda mit der Zeremonie: Es ist eine zauberhafte Mischung aus Musik und Tanz – und dabei wird ständig gelächelt! Die Männer pusten zu Beginn in Muschelhörner und entlocken ihnen so eindrucksvolle Töne. Es ist nicht zu übersehen, was für eine Kraftanstrengung das ist. Doch sie ziehen es stolz durch. Dazu wird gerasselt und rhythmisch getanzt. Der Altar wird mit einem wohlduftenden Rauch benebelt, auch im Publikum bekommt man einiges davon ab.
Als ich mich schließlich von dem Geschehen vorne losreißen kann, schaue ich mir mein Umfeld an: Wie ich selbst haben viele ein Grinsen im Gesicht, wirken total berauscht von der fröhlichen Zeremonie. Das Publikum könnte nicht gemischter sein. Alt und Jung sind gekommen, um ihre Toten zu feiern und oder die mexikanische Tradition hautnah mitzuerleben. Viele haben sogar ihre Babys mitgebracht und tanzen munter mit den Würmchen zur Live-Musik. Man sieht auch ein paar bemalte Gesichter: schaurig schöne Totenschädel mit Blumen. Einige Mexikanerinnen begeistern in ihren traditionellen, kunterbunten Kleidern.

Nach der Einweihung wird es schnell chaotisch: Viele stürmen mit ihren Gaben nach vorne, um sie an der Ofrenda platzieren zu können. Hauptsächlich Kerzen und Fotos. Mein persönliches Highlight: eine Flasche Bier „für Opa“. Wie mir der Veranstalter erklärte, seien beim letzten Mal über 500 persönliche Gaben zusammengekommen. Dieses Mal dürfte es ähnlich ausfallen: Als ich den Saal schließlich verlasse und die lange Schlange an Menschen zusammen mit den ganzen Besuchern in den Hallen im Kopf überschlage, komme ich auf über Tausend Besucher.

Auch auf dem mexikanischen Markt im Foyer des Humboldt-Forums brummt es. Hier gibt es eine Auswahl an Ständen mit Kunsthandwerk wie kleinen Totenboxen oder Armbändern und natürlich Tequila und Tacos für alle. Letztere genehmige ich mir noch, bevor ich das Fest mit dem Geschmack von Guacamole im Mund und einem Lächeln auf den Lippen verlasse. Die wunderbare Energie, mit der die Mexikaner ihre Toten feiern, ist einfach ansteckend … ■