„Träume sterben nicht“

Utopie, Enttäuschung, Hoffnungen in „Spur der Steine“ des Theaters Schwedt

In der DDR war Erik Neutschs Roman ein Bestseller, der Defa-Film mit Manfred Krug blieb 23 Jahre lang aus politischen Gründen verboten. Jetzt kommt er in Schwedt auf die Bühne.

Author - Susanne Dübber
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Zünftige Zimmermannskluft, die Schippe einsatzbereit in der Faust, Fabian Ranglack spielt im Theater Schwedt den Balla in „Spur der Steine“.
Zünftige Zimmermannskluft, die Schippe einsatzbereit in der Faust, Fabian Ranglack spielt im Theater Schwedt den Balla in „Spur der Steine“.Uckermärkische Bühnen Schwedt/Oliver Voigt

Auf der Bühne des Theaters in Schwedt/Oder (Uckermark) tragen die Schauspieler in der neuen Theaterfassung von „Spur der Steine“ kleine weiße Werksgebäude und Schornsteine hin und her. Die Klötzchen sollen Aufbau symbolisieren. Dazu spielt die Band „Wenn Träume sterben“ von den Puhdys. Perfekt passt dieser Song zu der Geschichte von Zimmermann Balla (Fabian Ranglack), dem Parteisekretär Horrath (Andreas Philemon Schlegel) und der Ingenieurin Kati (Antonia Schwingel). Deren unerfüllte und enttäuschte Liebe, ihre Wünsche an das Leben und ihr Ringen um eine gerechtere Gesellschaft sind heute so aktuell wie 1964. Premiere ist am 4. Oktober.

Vor 61 Jahren erschien der Roman von Erik Neutsch, mit mehr als 500.000 verkauften Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher in der DDR. Die Dramaturgin Sandra Zabelt erinnert sich: „Ich war zwölf, als die Wende 1989 kam. Das Buch kannte ich vom Sehen, denn es stand im Bücherregal meiner Großeltern.“ Sie empfindet die Geschichte als „unbedingt erzählenswert“. „Meine Großeltern gehörten zu dieser Aufbaugeneration der DDR. Der Glaube, das Hoffen, dass man etwas besser machen kann, das fehlt uns im Moment.“

23 Jahre lang verboten und nach der Wende wiederaufgeführt

Diese Lücke will das Theater in Schwedt mit einer Schilderung von der Großbaustelle eines Chemiekombinats im fiktiven Schkona, Mitteldeutschland, füllen. Planverzögerungen, Baustillstand, Streits um Nachtschichten, Materialklau aus Mangel, Streik, Totschlag, Ballas und Horraths Liebe zu Kati. Schon in der Filmversion mit Manfred Krug, aus politischen Gründen 23 Jahre lang verboten und nach der Wende wiederaufgeführt, wurde der Stoff zum Kult.

Der Schriftsteller Erik Neutsch (1931–2013) im Jahre 1994: Der Autor von  „Spur der Steine“ lebte in Halle.
Der Schriftsteller Erik Neutsch (1931–2013) im Jahre 1994: Der Autor von „Spur der Steine“ lebte in Halle.imago stock&people

Der Intendant und Regisseur André Nicke erklärt, wie die Aufbauleistung einer Generation auf den Spielplan kam. „Wir wollen über Utopien und ihre Notwendigkeit, sich eine Zukunft vorzustellen oder zu erträumen, erzählen.“ Plattform dafür ist der Staat DDR. Erfahrungen wie „der Ostdeutsche hatte gelernt: erst die Gesellschaft, dann das Individuum. Wenn das Individuum überhaupt eine Rolle spielte. Im Westen war es umgekehrt“ fließen ein, erklärt André Nicke. Nachdenklich fügt er hinzu: „Mir fehlt das: der große, gemeinschaftliche Traum.“

Das Thema DDR und vor allem die DDR-Mucke sind beliebt beim Publikum. „Wir haben im vergangenen Jahr ‚Die Legende von Paul und Paula‘ gespielt und gemerkt, unser Publikum springt da wahnsinnig drauf an.“ Natürlich kommt Frank Schöbel vor, „Da war Gold in Deinen Augen“, „die ganz große, emotionale Schnulze“. Gerd Christians „Sag ihr auch“, das war in der DDR „einer der großen Hits“. Genauso „Zeit, die nie vergeht“ von der Band Perl. Balla singt das beliebte Kinderlied „Kleine weiße Friedenstaube“. André Nicke: „Gerade die jungen Schauspieler, egal ob sie nun aus dem Osten oder dem Westen sind, kannten diese Musik nicht, haben die jetzt für sich entdeckt und hören sie teilweise auch privat.“

Noch wichtiger ist für die Theatermacher die gegenwärtige schwierige politische Lage in Deutschland. In Schwedt manifestierte sie sich mit 44,66 Prozent Erststimmen und 41,36 Prozent Zweitstimmen für die AfD bei der Bundestagswahl vor sieben Monaten. Für eine Partei, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird.

Auf der Bühne schieben die Schauspieler weiter Klötzchen für Klötzchen die Gebäude zusammen und wieder auseinander. Dahin, dorthin, wie sieht die Zukunft aus? Die fiktive Unsicherheit drinnen im mächtigen, brutalistischen Betonbau aus den 70ern zeigt sich draußen als Realität. Den direkten Blick auf die Schlote des Erdölverarbeitungswerks, des heutigen PCK, bieten die großen Foyerfenster.

Vor drei Jahren kürte das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege den Theaterbau als künftig unantastbares „Denkmal der Ostmoderne“. Unwahrscheinlich, dass das hilft bei der gegenwärtigen schwierigen wirtschaftlichen Lage der Stadt. Sie entsteht durch den Wegfall des Rohstoffes Öl für das PCK seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine 2022.

Ungelöste Konflikte der Vergangenheit

Allerdings ist das Erinnern im Theater hilfreich beim Bewältigen des Heute, meint André Nicke. „Die Probleme der Gegenwart haben ganz viel mit den nicht gelösten Konflikten der Vergangenheit zu tun.“ Das betreffe auch Lebensleistungen.

„Der Roman erzählt über Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg, der neben der baulichen Substanz auch Moral, Geist und menschliche Beziehungen zerstört hatte, mit Idealen an etwas glauben wollten.“ Die könne man nicht alle einfach abschreiben, „weil am Ende die Idee der Utopie, der sie gefolgt sind, zunehmend pervertierte“. Möglicherweise sei das der eigentliche Konfliktstoff von allen Utopien: „Wenn es Institution wird, wenn es Partei wird, wenn es Kirche wird, dann pervertiert es irgendwann. Der Gründungsgedanke und die Gründungsmütter und -väter werden von den folgenden Generationen gefressen.“

Ähnlich denkt Evelin Wittich. Die 75-Jährige ist Vorsitzende der Erik-Neutsch-Stiftung, war Mitgründerin der der Linkspartei nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Harz wohnend, wo auf Schloss Blankenburg die rund 6800 Bücher umfassende Bibliothek von Erik Neutsch zu besichtigen ist, erzählt sie am Telefon. Wenn man die DDR ein bisschen verstehen wolle, dann lohne es sich, den Schriftsteller zu entdecken. „In seinem Werk spiegeln sich Widersprüche und Entwicklungen der DDR wider. Darin werden sich viele Menschen mit ihren Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen wiederfinden.“

Wenn Liebe entsteht: Kati (Antonia Schwingel) und Horrath (Andreas Philemon Schlegel) in „Spur der Steine“
Wenn Liebe entsteht: Kati (Antonia Schwingel) und Horrath (Andreas Philemon Schlegel) in „Spur der Steine“Oliver Voigt/Uckermärkische Bühnen Schwedt

Es sind solche Enttäuschungen wie über die Partei SED, die in „Spur der Steine“ beschrieben werden. Das uneheliche Kind, die Folge der Liebe zwischen Kati und Horrath, besprechen die Genossen in inquisitorischen Parteisitzungen. Demütigend und persönliche, intime Grenzen verletzend, ist die Anklage und Bloßstellung von ihr und ihm. Als Bestrafung für seine verbotene Liebe und deren Verleugnung verliert Horrath seinen Posten, muss sich als Hilfsarbeiter durchschlagen. Sie trennt sich von ihm und kündigt.

Am Ende haben alle verloren. Es gibt kein Happy End. Aber eine Notwendigkeit, betont André Nicke. „Träume sind nie vergeudet, weil sie uns Lust auf etwas machen, was da noch kommen kann.“

Andre Nicke, Intendant Uckermärkische Bühnen Schwedt, zeigt das Plakat mit den drei von der Baustelle: Fabian Ranglack als Balla (l.), Antonia Schwingel als Kati und Andreas Philemon Schlegel als Horrath.
Andre Nicke, Intendant Uckermärkische Bühnen Schwedt, zeigt das Plakat mit den drei von der Baustelle: Fabian Ranglack als Balla (l.), Antonia Schwingel als Kati und Andreas Philemon Schlegel als Horrath.Susanne Dübber/Berliner Zeitung