Der KURIER hat’s ausprobiert

Auch bei Schnee und Eis: Warum dieser Berliner sein Leben barfuß verbringt

MIT VIDEO-Reportage: Kurier-Reporterin Julia trifft den Berliner Barfußläufer Herbert zum Gespräch – und zieht sogar selbst ihre Schuhe aus.

Author - Julia Nothacker
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Herbert Poy geht seit fast fünf Jahren barfuß durchs Leben.
Herbert Poy geht seit fast fünf Jahren barfuß durchs Leben.Veronika Hohenstein

Er nennt Schuhe seine „Gefängnisse“ und hat nur zwei Paare zu Hause im Schrank. Herbert Poy, 71, ein richtiger Ur-Berliner, der noch nie irgendwo anders gewohnt hat als in seinem Haus mit Garten in Prenzlauer Berg, braucht aber auch kaum Schuhe. Der frühere Betriebsleiter bei der BVG im Ruhestand erscheint auf die Minute genau, als wir ihn vor dem Verlagsgebäude am Alexanderplatz treffen. Als er mit seinen vielen Silberketten, Ringen und einem freundlichen Lächeln im Gesicht auf uns zu schlendert, erkennen wir ihn sofort – an seinen Füßen. Herbert geht nämlich barfuß, so wie er es jeden Tag tut, seit fast fünf Jahren.

Herbert geht auch bei Schnee und Eis barfuß durch Berlin

Herbert, in der Szene auch Barfuß-Herb genannt, hat Glück, es ist ein milder Herbsttag, an dem sich sogar die Sonne blicken lässt. Der perfekte Tag für einen entspannten Spaziergang durch Berlin-Mitte, es ist nicht zu warm, nicht zu kalt. Wobei, eigentlich habe vielmehr ich – Kurier-Reporterin Julia – das Glück, einen recht milden Tag erwischt zu haben, Herbert hingegen sind die Temperaturen herzlich egal. Er geht bei fast jedem Wetter barfuß: „Bei Schnee und Eis, bis -10 Grad“, sagt er stolz, aber nicht trotzig. Bei noch niedrigeren Temperaturen – aber wirklich nur dann, wenn es nicht anders geht – greift Herbert nämlich vernünftigerweise doch mal zu seinen „Gefängnissen“.

Nur ein Viertel von den circa 30 Barfuß-Leuten, die Herbert kennt, zieht das mit dem Barfußlaufen auch im Winter durch, er ist einer von ihnen. „Kalt sind -5 oder -7 Grad, das merkt man dann schon. Dabei kann man dann auch Erfrierungen bekommen und sollte, wenn möglich, nur sehr kurze Strecken laufen.“

Die K-Frage, wie Herbert sie nennt – also die Frage, ob ihm kalt ist –, ist übrigens die Frage, die ihm am häufigsten gestellt wird. Auch ich stelle diese Frage natürlich, genau wie die wohl zweithäufigste Frage, warum er das eigentlich genau macht mit dem Barfußlaufen.

Herberts Tipps für die Fußpflege: waschen, eincremen, Pediküre und gut zureden.
Herberts Tipps für die Fußpflege: waschen, eincremen, Pediküre und gut zureden.Veronika Hohenstein

Er war zwar schon immer interessiert, hat die Entscheidung, keine Schuhe mehr zu tragen, aber recht spät getroffen. Auf die Idee brachte Herbert schließlich ein Freund aus der Nachbarschaft. Er ging schon länger barfuß durchs Leben und fragte Herbert eines Tages, ob er das nicht auch mal ausprobieren wolle. „Ich kann nicht, ich habe immer kalte Füße“, lautete Herberts Antwort. Daraufhin schaute ihn der Freund an und sagte: „Mach das mal, auch im Winter! Du wirst nie wieder kalte Füße haben.“

Der Beweis: Herbert barfuß bei Schnee und Eis.
Der Beweis: Herbert barfuß bei Schnee und Eis.privat

Herberts Erkenntnis, nachdem er es ausprobierte: „Es ist unglaublich, denn es stimmt. Zu 95 Prozent habe ich keine kalten Füße mehr. Immer, wenn die K-Frage kommt, sage ich: ‚Natürlich ist es kalt, wenn man durch den Schnee läuft, aber wenn man nach Hause kommt und sich die Füße gewaschen hat, sind die Fußsohlen nach fünf Minuten so warm, dass man Eier darauf braten könnte.‘ Ich kenne keine kalten Füße mehr!“ Und nein, Herbert ist nicht öfter krank, was viele jetzt vielleicht denken – im Gegenteil. „Das Barfußgehen hat gesundheitliche Vorteile für das Gefäßsystem, das Immunsystem, die Gelenke und die Fußreflexzonen“, klärt Herbert auf.

Das Barfußgehen hat auch gesundheitliche Vorteile, erzählt Herbert.
Das Barfußgehen hat auch gesundheitliche Vorteile, erzählt Herbert.Veronika Hohenstein

Kurier-Reporterin Julia wagt das Selbst-Experiment

Und dann wird es Zeit, dass auch ich endlich mal meine Schuhe ausziehe und das Barfußgehen wage. Meine Schwester reagiert geschockt, als ich ihr davon erzähle: „Du kannst doch nicht in Berlin am Alexanderplatz barfuß rumlaufen. Was da alles rumliegt …“ Doch, na klar, darum geht es doch. Am Strand oder auf einer Wiese barfuß laufen, das kann doch jeder und ist nichts Besonderes. Ich will ja aber wissen, wie das ist, wie Herbert mitten in der Großstadt auf Schuhe zu verzichten.

Auch KURIER-Reporterin Julia hat ihre Schuhe ausgezogen.
Auch KURIER-Reporterin Julia hat ihre Schuhe ausgezogen.Veronika Hohenstein

Wie gesagt, mit dem Wetter habe ich es an diesem Tag gut getroffen. Doch gerade in Berlin gibt es ja noch jede Menge andere Dinge, die einen normalerweise davon abhalten würden, barfuß zu laufen. Und tatsächlich, ausgerechnet bei unserem Spaziergang mit Herbert passiert es: Er verletzt sich an einer Scherbe. Zum Glück habe ich immer Pflaster dabei. „Ach, nicht so schlimm“, beruhigt Herbert uns. Meine Social-Media-Kollegin und ich machen uns etwas Sorgen, weil sein Fuß einfach nicht aufhören will zu bluten. Doch Herbert ist nicht etwa entsetzt wie wir über das Blut, sondern über die Tatsache, dass er sich überhaupt verletzt hat. „Das ist mir zuletzt vor zwei Jahren passiert oder so“, sagt er. Deswegen sollte man sich auch immer vorher informieren, wenn man neue Orte erkundet. „Der Sinn des Barfußlaufens ist ja nicht, sich bewusst irgendwelchen Gefahren auszusetzen. Es geht darum, zu genießen und sich frei zu fühlen.“

Ausgerechnet bei unserem Spaziergang hat sich Herbert an einer Scherbe verletzt.
Ausgerechnet bei unserem Spaziergang hat sich Herbert an einer Scherbe verletzt.Veronika Hohenstein

Nur einmal wurde es wirklich ein bisschen gefährlich für Herbert, als ihm ein Stück Metall aus seinem Fuß herausoperiert werden musste. Ich finde das ziemlich krass, doch Herbert können selbst solche Erlebnisse nicht schocken und vom Barfußgehen abhalten. „Das ist nicht krass! Es ist nur krass, dass man mal komisch angeguckt wird, wenn man barfuß in der U-Bahn sitzt oder draußen an der Haltestelle steht. Aber an die Blicke gewöhnt man sich. Meistens sind auch die Menschen, mit denen man dann in Kontakt kommt, sehr nett. Wenn ich durch Westend oder durch Zehlendorf laufe und dann noch ‚geschmückt‘ mit meinem ganzen Fetisch-Kram, und noch dazu barfuß, dann amüsieren mich die ratlosen Gesichter derer, die mich von oben bis unten mustern und nicht wissen, zu welcher Klientel ich gehöre. Und wenn ich dann vielleicht noch ein gepflegtes Oberhemd trage, dann nimmt die Ratlosigkeit erst recht kein Ende“, erzählt Herbert lachend.

In der Szene ist Herbert auch als Barfuß-Herb bekannt.
In der Szene ist Herbert auch als Barfuß-Herb bekannt.Veronika Hohenstein

Widerstände gegen das Barfußgehen

Allzu oft passiert es zum Glück nicht, dass Herbert wegen seines Barfußgehens Ärger hat. Viele Leute registrieren zunächst gar nicht, dass er keine Schuhe trägt. „Natürlich würde ich nicht ohne Schuhe ins Adlon oder ins KaDeWe gehen, aber Restaurants, Bierkneipen, Cafés sind in der Regel kein Problem. Sehr selten passiert es, dass man nicht reingelassen wird, weil aufs Hausrecht verwiesen wird.“ Zweimal ist es Herbert bisher in den fünf Jahren passiert, dass er des Hauses verwiesen wurde. Einmal am Flughafen in Spanien, weil das Land laut Herbert generell sehr barfuß-feindlich ist, und einmal in einem Berliner Supermarkt an der Warschauer Brücke. Dort fürchtete man, Herbert könnte sich im Supermarkt verletzen und dann möglicherweise Rechtsansprüche geltend machen. Das Ergebnis: Herbert verfasste eine schriftliche Erklärung, dass er in allen Filialen deutschlandweit auf jegliche Rechtsansprüche verzichte, sollte er sich verletzen – Thema erledigt.

Aktuell macht ausgerechnet die BVG, für die Herbert viele Jahre lang tätig war, Probleme. „Vor drei Wochen rief mich ein Barfuß-Freund ganz aufgeregt an und erzählte mir, dass er mit einer BVG-Fähre in Berlin-Rahnsdorf fahren wollte und der Kapitän ihn nicht mitnehmen wollte – aus hygienischen Gründen sei das nicht möglich, meinte er. Wir haben dann Kontakt zur BVG aufgenommen und haben um noch mehr Argumente für dieses sinnlose Verbot gebeten. Warum sollte man aus hygienischen Gründen eine Personenbeförderungsfähre nicht benutzen dürfen? Ich persönlich halte das für obskur und bizarr. Was passiert mit Hunden? Ziehen die auch Schuhe an, wenn sie mit der Fähre fahren? Wir sind noch in der Klärung und hoffen auf ein positives Ergebnis.“

Herbert mit seinen Barfuß-Freunden bei einer Wanderung
Herbert mit seinen Barfuß-Freunden bei einer Wanderungprivat

Was mir während unseres Spaziergangs durch Berlin-Mitte auffällt: Ein paar Leute gucken zwar genauer hin, komische Blicke halten sich aber in Grenzen. Das liegt natürlich an Berlin selbst und daran, dass so ziemlich jeder Zweite auf der Straße ein Hingucker ist. Ein paar nackte Füße gehen da schnell in der Masse unter. Außerdem tummeln sich gerade um den Alexanderplatz herum viele Obdachlose. „Am Alex hat mir voriges Jahr mal jemand auf die Schulter getippt. Als ich mich umdrehte, hat er mich schüchtern gefragt, ob er mir ein paar Strümpfe schenken soll. Nachdem ich mich dann als ‚nicht arm‘ geoutet hatte und wir ein langes Gespräch führten, konnte ich ihn dann auch noch animieren, selbst barfuß zu laufen. Er zog Schuhe und Strümpfe aus und fand es toll, jetzt öfter auf nackten Sohlen zu laufen. Ja, so können sich Dinge auf einmal völlig in eine andere Richtung entwickeln.“

Nicht nur den Mann, der Herbert Strümpfe schenken wollte, hat Herbert am Ende überzeugt. Auch ich muss nach circa eineinhalb Stunden zugeben, dass mir das Barfußlaufen besser gefällt, als ich dachte. Das liegt aber wohl auch daran, dass ich im Gegensatz zu Herbert am Ende keinen blutenden Fuß habe. Wie genau ich diese kleine Challenge mit dem Barfußlaufen durch Berlin gemeistert habe, sehen Sie übrigens in unserem Video.

Haben auch Sie Lust bekommen, das Ganze mal auszuprobieren? Dann besuchen Sie doch einfach eins der vier Barfuß-Events, die jährlich in Berlin stattfinden. Mehr Infos erhalten Sie auf barfuss-life.style. ■