Union: Von ganz unten nach ganz oben
Mehrmals sind sie beim 1. FC Union am Ende, nun gehört sogar Rekordmeister Bayern München zu den Gästen in der Alten Försterei.

So eine Ahnung hatten sie durchaus in Köpenick. Dass da was geht an jenem 27. Mai 2019 gegen den VfB Stuttgart. „Die Zeit ist nun gekommen …“ haben sie zwar nicht unbedingt hinausposaunt, sich nur zugeflüstert aber haben sie es auch nicht. Ein Selbstbewusstsein, im Zweifel gar ein eisernes, besitzen sie dennoch an jenem lauen Maiabend vor ausverkaufter Hütte in ihrem Ballhaus des Ostens, als es darum geht, es allen zu zeigen, um im Olymp des deutschen Vereinsfußballs nicht nur anzuklopfen, sondern dort auch erhobenen Hauptes und mit stolzgeschwellter Brust einzutreten.
Das glückselige Ende ist allen bewusst, sie sind zu Tränen gerührt nach dem 0:0-Triumph gegen Stuttgart, auch nach drei durchgefeierten Tagen und Nächten, nach Stadtrundfahrten und Bootskorsos, als die Fans nur noch krächzen können und kaum noch singen: Geschafft, endlich haben sie es gepackt, sie halten es in Händen und nehmen es am liebsten mit ins Bett, dieses einmalige Gefühl, diese Wucht an Emotionen, diese Macht des Augenblicks. Schließlich sind sie die Jäger des eisernen Glücks.
Viele Jahre, Jahrzehnte gar, scheint es, als sollten sie diesen magischen Moment nie zu greifen bekommen. So, als mache er mit Absicht einen Bogen um die Alte Försterei und als ob die Fußball-Götter sich mit manch wundersamer Rettungstat noch zu Zeiten, als der BFC Dynamo der Erzfeind ist und nicht etwa Tennis Borussia oder der Deutsche Fußball-Bund, mit ihren rot-weißen Zauberkräften verausgabt. Der noch heute nicht fassbare Triumph im Pokalfinale 1968 gegen Meister Carl Zeiss Jena, die beiden 1:0-Wahnsinnssiege als Aufsteiger in der Saison 1976/77 gegen die Weinroten aus Hohenschönhausen, das Klassenerhalts-Spektakel 1988 in letzter Minute beim 3:2 in Karl-Marx-Stadt – das soll für einen Verein wie diesen, dessen Väter die Schlosserjungs aus Oberschöneweide sind, der manchem zu klobig-kantig daherkommt, vielleicht auch zu prollig, immer aber humorvoll und mit feinem Gespür für Hintersinn, doch bitte genügen.
Schlau jedenfalls stellen sich die Eisernen nicht gerade an, als es nach dem Mauerfall, den sie in der zweitklassigen DDR-Liga erleben, um den Start im Fußball nicht nur zwischen Rostock und Aue, sondern um den zwischen Hamburg und München geht. Sie krachen sportlich hin und, was sich als noch viel schlimmere Fußfessel erweist, wirtschaftlich. Sie fallen, um das im Fan-Sprech der Jungs von der Waldseite auszudrücken, regelrecht auf die Schnauze. Zwei Worte reichen für das Dilemma, und sie werden mit Köpenick in Verbindung gebracht wie Schuster-Witzbold Wilhelm Voigt, der die Herren im Rathaus als verkleideter Hauptmann einst um ihr Stadtsäckel bringt: gefälschte Bankbürgschaft!
Es gibt ein Drunter und Drüber, ein Wollen und Nichtkönnen. Dem Ehrgeiz stehen die fehlenden Finanzen im Weg und stellen ihm über Jahre ein Bein. Mit Frank Pagelsdorf, Frank Engel und sogar Hans Meyer heuern Trainer der Extraklasse an, die meisten Spieler der Ära nach dem Pleite-Sommer 1993 – die spektakulärsten Karrieren legen Sergej Barbarez (später 330 Bundesligaspiele, zweimal Fußballer des Jahres in Bosnien und Herzegowina, Sportler und aufgrund seines sozialen Engagements sogar Mann des Jahres 2005 in seiner Heimat) und Marko Rehmer (225 Bundesligaspiele, Vize-Weltmeister 2002) hin – haben noch lange nicht fertig und starten sonst wo durch, nur nicht in der Alten Försterei.
Einer jedoch bleibt, wenn auch über kleine Umwege: Oskar Kosche. Was ihm mit den Eisernen widerfährt, nämlich die Verweigerung der Lizenz, ist ihm ein Jahr zuvor schon mit Sachsen Leipzig passiert. In Babelsberg, dort ist der ehemalige Torhüter ins Management gewechselt, droht die Insolvenz. Weil Kosche sich aber in wirtschaftlichen Dingen auskennt, in düsterer Zeit sogar ehrenamtlich anpackt und so etwas wie ein „Lebensretter“ wird, sind sie froh, als er zurückkehrt und seinen – er selbst würde in seiner Bescheidenheit sagen: kleinen – Anteil am sensationellen Aufschwung hat. Na ja, schließlich ist da ja noch einer wie Michael Kölmel, der tatsächliche Retter, der es mit seinen Millionen schafft, dass der sportliche Sensenmann immer wieder vergebens in Köpenick vorbeischaut. Das Weihnachtssingen, das 89 Fans 2003 im Stadion erfinden und das nahezu weltweit Nachahmer findet, auch der Stadionbau, mit dem sich die Fans selbst ein Denkmal setzen, sind sozusagen lebenserhaltende Maßnahmen.
Steinig ist der Weg bis in die Bundesliga trotzdem, trotz des Hurras im DFB-Pokal 2001 mit dem Einzug ins Finale, trotz des Aufstiegs in die 2. Bundesliga im selben Sommer, erst recht aber wegen des Abstiegs-Durchmarsches 2004 in die Regional- und eine Saison später in die viertklassige Oberliga. Es scheint, als hätten all die Rettungsaktionen, das „Bluten für Union“ zum Beispiel, den sportlichen Tod nur hinausgezögert. Allerdings hat auch der schlimmste Absturz seine gute Seite. Im Fall der Rot-Weißen dürfen 14.020 live dabei sein: Es ist ein 8:0 gegen die für den Eisern-Fan „Unaussprechlichen“ aus dem Sportforum.
Fortan, als ob es erst dieses Schlüsselerlebnisses bedurft hätte, das, zumindest vom Gefühl her, alte Rechnungen begleicht, geht die Post ab, wirtschaftlich durch den Einstieg von Dirk Zingler, seit 2004 ist er Präsident, sportlich nach mancher Trainer-Enttäuschung durch Uwe Neuhaus, der in seiner siebenjährigen Amtszeit den bisherigen Rekord-Trainer Heinz Werner ablöst und der sein Team 2009 zurück in die 2. Bundesliga führt.
Seit zwölf Monaten sind die Eisernen also in der Bundesliga, nach Hansa Rostock, Dynamo Dresden, VfB (1. FC Lok) Leipzig und Energie Cottbus (RB taugt für die meisten ja nicht als Produkt von hier) mit Urs Fischer als Trainer als erst fünftes Team aus dem Osten. Auch Rekordmeister Bayern München gehört nunmehr zu den Gästen in der Alten Försterei. Dafür, aber nicht nur, dass sie am Anfang, als es um die Plätze für die Neuordnung des Fußballs in Deutschland geht, nicht einmal am Start sind und in den Jahren danach zerzaust und zerfleddert werden, grenzt das an Zauberei. Jimmy Hoge, einer der Pokalhelden von 1968 und bis zu seinem Tod im November 2017 glühender Fan, hat in der „Elf der eisernen Fußball-Götter“ wahrscheinlich zu einem zusätzlichen Übersteiger angesetzt …
Bei all dem Jubel, dem Applaus und dem „Eisern Union!“ – eine kleine, ganz kleine, etwas dunklere Seite tut sich dennoch auf. Es ist der Schatten, der auf die einst ziemlich innige Beziehung – 25 Jahre mit winzigen Unterbrechungen im Verein und gut 600 Einsätze lassen diesen Schluss zu – zwischen Eisern und Lutz Hendel fällt. Als er 1993 als Rekordspieler aufhört, wollen die Fans das nicht wahrhaben, sie sammeln Unterschriften, etwa 1000 kommen zusammen, damit Frank Pagelsdorf weiter auf „Meter“, so heißt der Malocher bei den Fans, baut. Der Trainer tut das nicht, einiges andere läuft quer in der chaotischen Zeit damals, Unannehmlichkeiten hier, Missverständnisse da. „Es ist nicht ein einziger Punkt, der mich ärgert“, sagt Hendel, „es ist die Summe der Dinge, die passiert sind.“ Deshalb auch hat er über Jahre kein Spiel mehr im Stadion verfolgt, obwohl er es aus dem Allende-Viertel „zu Fuß vielleicht 20 und mit dem Fahrrad zehn Minuten“ bis in die Alte Försterei hätte.
Schade, zumal die heutigen Macher dafür nicht unbedingt haften. Doch Hendel ist ein klein wenig so, wie es ihn als Spieler und als Meterfresser ausgezeichnet hat: „Da bin ich stur.“ Dabei könnten die Irritationen mit einem Gespräch, vielleicht mit einem „Entschuldige“, fix ausgeräumt sein.
Gelänge sogar das, würden die Jäger des eisernen Glücks einen weiteren spektakulären Fang machen.