Triumph über den Tumor

Timo Baumgartls Kampf gegen den Krebs ist Chefsache beim 1. FC Union

Der KURIER hat die Rangliste des Erfolgs beim 1. FC Union erstellt. Platz 15: Timo Baumgartl.

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Timo Baumgartl hat sich eine Kamera geschnappt und schaut durch die Linse auf die Fußballwelt.
Timo Baumgartl hat sich eine Kamera geschnappt und schaut durch die Linse auf die Fußballwelt.City-Press

Aufstieg, Klassenerhalt, Conference League, Europa League, Königsklasse – das ist der 1. FC Union der jüngsten fünf Jahre im Schnelldurchlauf. Dahinter verbergen sich Namen, Ereignisse, Entscheidungen, manchmal auch nur Puzzleteile. Ein Top-20-Ranking ist ein wenig ungerecht, denn ohne den Einen oder das Eine würde es das Ganze, diese Erfolgsgeschichte, nicht geben. Entscheiden bei einem olympischen 100-Meter-Lauf, in dem sich die Weltbesten treffen, Millimeter und Hundertstelsekunden, dann gilt für die Eisernen: Gewonnen haben alle, nur eben mit Nuancen. Auf Platz 15 – Timo Baumgartl.

Krebs! Diese Diagnose haut einen um. Sie trifft einen wie mit der Keule. Viel schlimmer kann es, wenn es um die Gesundheit geht, niemanden erwischen. Oft folgen viele Tränen, dann kommen Fragen. Warum? Warum ich? Warum aus-ge-rech-net ich? Ungerecht fühlt sich das an, bitter, brutal, gemein, niederschmetternd.

Timo Baumgartl hat all diese Augenblicke der Verzweiflung, der Bitternis, der Leere erlebt. Er, der Leistungssportler, der Fußballer auf hohem und höchstem Niveau, der für den Deutschen Fußball-Bund in zig Auswahlmannschaften des Nachwuchses insgesamt 30 Länderspiele bestritt, Kapitän des deutschen U21-Teams war und – Hodenkrebs? Unfassbar eigentlich und doch brutale Realität.

Im Frühjahr 2022 trifft ihn diese Diagnose. Gerade 26 Jahre ist der Abwehrspieler alt. Seit Sommer 2021 spielt er für den 1. FC Union, ausgeliehen für eine Saison ist er von der PSV Eindhoven. 25 Einsätze in der Bundesliga stehen für die Köpenicker zu Buche, ein Tor hat er erzielt bei einem 2:1 gegen RB Leipzig, dem ersten Dreier in der Bundesliga gegen den Lieblingsfeind der Eisernen. Eine feste Größe ist er, in die Union-Familie als „Fußballgott“ aufgenommen und als solcher verehrt.

Eine Routine-Kontrolle verändert das Leben des Profis vom 1. FC Union

Eine Vorsorgeuntersuchung ist es an einem freien Tag, danach hatte er sich mit seiner Freundin Julia zum Essen verabredet, zunächst aber ruft er sie an und sagt ihr: „Da ist irgendwas. Sie müssen das nachkontrollieren.“ Am nächsten Tag die Gewissheit über die Erkrankung. Von einer Sekunde zur anderen ist nichts mehr wie zuvor. „In solchen Momenten“, gibt Baumgartl später zu, „ist es wichtig, Gefühle zu zeigen. Da tut eine Umarmung gut, aber da tun auch Tränen gut.“ Die vergießt er in Mengen, „manchmal haben wir stundenlang geweint“, erzählt er. Die Gefühle spielen noch mehr Achterbahn als sonst. Angst vor der Zukunft macht sich breit, düstere Gedanken kommen, Gedanken an den Tod, dann aber auch lichte Momente, in denen der Glaube an ein glückliches Ende wächst und immer stärker wird.

Der Tumor wird entfernt, es folgen mehrere Zyklen Chemotherapie mit all ihren Folgen von Übelkeit, Erbrechen und Haarausfall. Zugleich wird die Hoffnung, die Krankheit zu besiegen, sichtbarer. Baumgartl schaltet in den Kampfmodus, diesmal geht es nicht um die Eroberung eines Balles oder um das bessere Ende in einem Zweikampf, es geht um ihn selbst, es geht um das nackte Leben. Der Austausch mit anderen Patienten, mit anderen Betroffenen wie Sebastien Haller von Borussia Dortmund und Marco Richter von Hertha BSC, die fast zur gleichen Zeit die Diagnose erhalten haben, hilft enorm. Auch für Baumgartl ist die Kommunikation mit Leidensgenossen wichtig. „Da wird einem Mut zugesprochen“, sagt er, „da erfährt man auch, dass Hodenkrebs in fast allen Stadien heilbar ist.“

Timo geht öffentlich mit der Erkrankung um, will anderen so Mut machen

Trotzdem ist alles anders, vor allem der Blick aufs Leben. Zunächst war da der Glaube an die Unangreifbarkeit. „Ich bin Leistungssportler, dachte ich, ich hatte nie körperliche Probleme oder irgendwelche Symptome. Und dann das …“, erzählt er freimütig. Mit seinem Bedürfnis, offen mit seiner Erkrankung und seinem Schicksalsschlag umzugehen, spricht er anderen aus der Seele.

Die geglaubte Unverletzlichkeit erweist sich selbst für ihn als hochtrainierten Sportler als überaus fragil. Wie mögen deshalb andere damit umgehen, was müssen sie leiden, Ängste ausstehen und möglichst überwinden! „Als öffentliche Person“, so seine Gedanken, „habe ich eine Vorbildfunktion. Ich wollte andere ermutigen, zur Vorsorge zu gehen.“

In der bisher schlimmsten Phase seines Lebens erfährt Baumgartl die uneingeschränkte Unterstützung seiner Familie, die Solidarität seiner Teams – mit Union und PSV sind es ja zwei – und die Anteilnahme der Fans. Schließlich neigt sich die Ausleihe ihrem Ende entgegen, nur ist die Zukunft offener denn je, weil schon das Heute kompliziert ist wie nie.

In diesem Moment kommt Hilfe von allen Seiten. Die Ausleihe wird, das ist fix besprochen, spontan verlängert. „Beide Vereine haben sich sofort geeinigt“, erzählt Baumgartl, „dafür bin ich unendlich dankbar. Sowohl Union als auch PSV haben das gezeigt, was nicht alltäglich ist in diesem Geschäft: Menschlichkeit. Sie haben gesagt, dass es nicht um die Vereine geht, sondern nur um den Menschen. Dafür möchte ich einfach nur danke sagen.“

Die Rückkehr ins Training des 1. FC Union ist ein ganz wichtiger Schritt

Baumgartl wird geheilt. Er kehrt auf den Trainingsplatz zurück, erst allein, dann in einer kleinen, später in einer größeren Gruppe. „Training ist ein wichtiger Schritt“, sagt er, „wenn die Chemo läuft, stellst du dir vor, wieder Bundesliga zu spielen. Aber es ist auch wichtig, einen Alltag zu haben.“ Die kleinen Schritte zurück ins Leben sind es, die große Emotionen auslösen. Es ist die Freude auf „Staubsaugen, Aufräumen und Wasserkisten tragen“.

Fünf Monate nach seinem letzten Spiel, einem 2:0 gegen Eintracht Frankfurt, ist er wieder zurück im Kader. Beim 1:0 in Köln sitzt er noch auf der Bank, eine Woche später, am 18. September 2022, steht er beim 2:0 gegen Wolfsburg in der Startelf und strahlt Zufriedenheit und Gelassenheit aus. „Wenn ich eine Chemo geschafft habe“, ist er überzeugt, „dann muss ich mir keinen Kopf mehr machen, wenn mir im Spiel ein Fehler unterlaufen ist.“

Deshalb ist er zum Abschluss der jüngsten Saison – obwohl er gegen Bremen nicht im Kader steht und vor dem Spiel verabschiedet wird – unmittelbar nach dem Sieg gegen Werder, der die Qualifikation für die Champions League sichert, als Feierbiest mittendrin. Gerade in der starken Gemeinschaft, die in der kritischsten Zeit seines Lebens fest an seiner Seite stand, artikuliert sich der Triumph über den Tumor.

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