Union-Kolumne

Eisernes Erfolgsrezept: Ich bin kein Star, also spiele ich beim 1. FC Union!

Das Geheimnis der Köpenicker liegt auch darin, dass sich keiner zu schade ist für die Drecksarbeit.

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Sheraldo Becker ist der Topscorer bei den Eisernen und in der Bundesliga, der Star beim 1. FC Union ist aber das gesamte Team von Trainer Urs Fischer. 
Sheraldo Becker ist der Topscorer bei den Eisernen und in der Bundesliga, der Star beim 1. FC Union ist aber das gesamte Team von Trainer Urs Fischer. IMAGO / Matthias Koch

Mancher Spruch überlebt eine Sportlerkarriere. Zum Beispiel dieser, der erst einmal in der Welt des Radsports für Aufmerksamkeit und Heiterkeit sorgte, bald aber den Weg darüber hinaus fand. Er kommt umso knackiger daher, weil die Worte einsilbig sind und damit, auch weil sie gerade von einem Helfer, den sie dort gern Wasserträger nennen, kommen, erst richtig knallen: „Quäl dich, du Sau!“

Udo Bölts hat das zu Jan Ullrich gepöbelt, nicht auf der Königsetappe der Tour de France 1997, auf der von St. Étienne nach L’Alpe d’Huez, einem 203,5-Kilometer-Kanten mit dem Ziel auf einem der legendärsten Gipfel in den französischen Alpen. Sondern als es über die Vogesen ging und Ullrich den Toursieg in den Sand zu setzen drohte. Ullrich hat, auch weil er so angefeuert wurde, seine Schwächephase überwunden. Und: Der Rostocker hat die Große Schleife gewonnen. Als erster und noch immer als einziger Deutscher. Etwas über neun Minuten Vorsprung hatte er nach der Zielankunft auf den Champs-Élysées auf den Franzosen Richard Virenque, seinen zuletzt ärgsten Verfolger.

Abwehr und Angriff: Beim 1. FC Union passt alles

Sinnbildich für den Erfolg des 1. FC Union: Angreifer Jordan Siebatcheu ist sich für die Drecksarbeit nicht zu schade, störte Wolfsburg immer wieder mit gutem Pressing.
Sinnbildich für den Erfolg des 1. FC Union: Angreifer Jordan Siebatcheu ist sich für die Drecksarbeit nicht zu schade, störte Wolfsburg immer wieder mit gutem Pressing.IMAGO / Jan Huebner

Was im Radsport geht, dass sich ein Einzelner in den Dienst des Kapitäns stellt (und wenn es mit so einem Bölts-Anmach-Spruch ist), dass ein Teamkamerad für den eigentlichen Sprinter den Spurt anzieht, geht auch in anderen Sportarten. So im Langstreckenlauf, wo sogenannte Hasen das Tempo machen für den vermeintlichen Star, der im Windschatten Körner spart, um sich dann mit einem neuen Rekord, dem Titel oder der Medaille feiern zu lassen.

Im Fußball funktioniert so etwas nicht. Mag sein, dass hier Torhüter, Kreativspieler und die, die Tore am Fließband erzielen, stärker in den Blickpunkt geraten als knallharte Zerstörer oder giftige Balleroberer. Die jährlichen Wahlen zu den Besten der Besten zumindest erhärten das. In den vergangenen 30 Jahren gab es mit Jürgen Kohler (1997), Jerome Boateng (2016) und Philipp Lahm (2017) nur drei Defensivspieler als Deutschlands Fußballer des Jahres. Bei der Wahl zum Weltfußballer, die seit 1982 organisiert wird, gibt es sogar nur einen Abwehrmann, der diesen Lorbeer erhielt: Fabio Cannavaro, Italiens Weltmeister-Kapitän von 2006. Ganz ähnlich sieht es in Europa aus, auch wenn hier Virgil van Dijk, der Niederländer, der den FC Liverpool anführt, 2019 auf den Thron kam und die Statistik ein wenig hübscht. Ansonsten: Keeper, Künstler, Knipser.

Beim 1. FC Union macht jeder die Drecksarbeit

Dabei ist Fußball jene Sportart, in der nur einer glänzen sollte: die Gruppe. Genau dafür ist der aktuelle 1. FC Union das beste Beispiel. Wenn Frederik Rönnow, der erst vier Gegentore hinnehmen musste und sein Team damit die wenigsten in der Liga, beim 2:0 gegen Wolfsburg zum zweiten Mal die Null hielt, kann das Lennart Grill, der ihn in der Woche zuvor beim 1:0 in Köln vertreten hatte, auch. Dass die Abwehr den Löwenanteil daran hat, dass sich die Gegner an den Eisernen die Zähne ausbeißen (nie mehr als ein Gegentor pro Spiel in dieser Saison), ist völlig klar. Außerdem ist es inzwischen kein Geheimnis mehr, dass die aus der Alten Försterei, vornweg Rani Khedira, so viel unterwegs sind wie sonst niemand. Zuletzt schafften sie mit 122,13 Kilometern Laufleistung erneut den Tagesbestwert. Dass wiederum die Angreifer wie verrückt knipsen – 15 Tore sind nach den Bayern mit 19 die zweitbeste Ausbeute –, ist so etwas wie das Gelbe vom Ei. Auf Berlinerisch heißt das: Et looft!

Was die Eisernen nicht haben, ist ein Star. Das ist gar nicht schlimm, denn im Augenblick fehlt ihnen so einer gar nicht. Vielleicht sind sie gerade deshalb so gut, weil jeder auch mal Drecksarbeit verrichtet wie zuletzt mit Sheraldo Becker und fast noch mehr Jordan Siebatcheu die beiden Angriffsspitzen. Der 1,90-Meter-Hüne hatte gegen Wolfsburg, abgesehen von seinem dritten Saisontor, fast die besseren Momente im Pressing des Gegners.

1. FC Union: Ultras foppen Wolfsburg mit Max-Kruse-Gesängen

Einmal, völlig verrückt, jagte er, der sein Kerngeschäft vornehmlich im gegnerischen Strafraum sieht, 20 Meter tief in der eigenen Hälfte den ballführenden Gegnern so lange und so bissig hinterher, bis er sie 20 Meter tief in deren Hälfte hatte. Ergebnis: Angriff gestoppt, Beifall von den Mitspielern und Daumen hoch von der Trainerbank. Mit eisernen Worten: Ich bin kein Star, also spiele ich bei Union! Das war schon 1968 so, als sie mit dem FDGB-Pokalsieg ihren bislang einzigen großen Titel gewannen. Der damalige Torhüter Rainer Ignaczak hatte es nicht vergessen und sagte noch kurz vor seinem Tod: „Dafür waren wir ein geiler Haufen.“

Mit Max Kruse hatten sie mal einen, der zumindest für ihre Verhältnisse in die Nähe dessen kam, was ein Star sein könnte. Aber sie vermissen ihn nicht. Im Gegenteil. Inzwischen dient er zumindest der Kurve als Häme. Die Ultras auf der Wuhleseite nämlich machten sich einen Jux daraus, die Mannschaft aus der Autostadt, allerdings stand es da schon 2:0 und der Dreier war so gut wie eingetütet, mit „Ohne Kruse habt ihr keine Chance!“-Gesängen zu foppen. Aber dieser Spruch ist schon wieder eine andere Geschichte. 

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