Große KURIER-Serie: Väter des Erfolgs, Platz 9
Der 1. FC Union und die Nachspielzeit, einfach nur Wahnsinn
„Nie aufgeben“, lautet das Motto der Eisernen. Der Lohn: So mancher Dreier wird erst ganz, ganz spät eingetütet.

Aufstieg, Klassenerhalt, Conference League, Europa League, Königsklasse – das ist der 1. FC Union der jüngsten fünf Jahre im Schnelldurchlauf. Dahinter verbergen sich Namen, Ereignisse, Entscheidungen, manchmal auch nur Puzzleteile. Ein Top-20-Ranking ist ein wenig ungerecht, denn ohne den einen oder das eine würde es das Ganze, diese Erfolgsgeschichte, nicht geben. Entscheiden bei einem olympischen 100-Meter-Lauf, in dem sich die Weltbesten treffen, Millimeter und Hundertstelsekunden, dann gilt für die Eisernen: Gewonnen haben alle, nur eben mit Nuancen. Auf Platz 9: die Nachspielzeit.
Viele Ausdrücke und Bonmots gibt es, die es ins Sprüche-Lexikon der Bundesliga geschafft haben. Einer davon ist zeitlos und trifft auf nahezu jedes Spiel zu, außer es steht zwei Minuten vor Schluss ungefähr 5:0 oder vielleicht auch nur 4:1. „Nie aufgeben, immer weitermachen. Immer weiter, immer weiter!“
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Oliver Kahn hat diese Worte geprägt und sie als Torhüter von Bayern München zu seinem damaligen Trainer Ottmar Hitzfeld regelrecht gefleht. Vielleicht auch deshalb haben die Münchner 2001 in allerletzter Sekunde durch den 1:1-Ausgleich in Hamburg doch noch die Schale gewonnen und Schalke als tränenreichem Meister der Herzen genau dieses sprichwörtlich aus dem Leib gerissen.
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Nie aufgeben – das gehört zur Union-DNA
„Nie aufgeben“, so lautet auch das Motto des 1. FC Union. Das muss den Eisernen nicht erst ins Herz und in den Kopf gepflanzt werden, das gehört von jeher zu ihrer DNA. So, um einen Blick in die tiefe Vergangenheit zu werfen, haben sie 1988 im legendären letzten Spiel mit einem 3:2 in Karl-Marx-Stadt im allerletzten Moment die Zugehörigkeit zur DDR-Oberliga gerettet. So halten es die Nach-nach-Nachfolger bis in die derzeitige Generation. Um es als Stammtischparole zu klassifizieren und um zugleich ein Klischee zu bedienen: Schluss ist erst, wenn der Schiedsrichter abpfeift.
Begonnen hat diese Tugend in der Neuzeit noch in der Zweiten Bundesliga. Genau im Aufstiegsjahr. Jeder, der am 7. Oktober 2018 im Heimspiel gegen Heidenheim im Stadion war, vergisst diesen Augenblick nie. Die Gäste führen bis tief in die Nachspielzeit 1:0, haben den Tabellenzweiten fast geknackt und sind bis auf zwei Punkte an ihn heran. Dann aber laufen die letzten Sekunden, und Rafal Gikiewicz hält es bei einem Freistoß für sein Team nicht mehr hinten.
Tatsächlich bekommt der Schlussmann den von Sebastian Andersson verlängerten Ball und köpft ihn zum Ausgleich ein. Das passiert in der vierten zusätzlichen Minute, sofort danach ist Schluss. Der Punktgewinn auf der letzten Rille ist gut für die Tabelle und noch mehr für das Gefühl, denn damit bleiben die Eisernen auch am 9. Spieltag ungeschlagen. Um den Faden weiterzuspinnen: Im Nachhinein ist dieser Punkt noch viel wertvoller, weil es am Saisonende im Kampf um Platz drei und um die Relegation für die Bundesliga noch viel haariger geworden wäre.
Union-Boss Oskar Kosche kann das auch
Kleine Randnotiz zum wichtigsten Tor der Eisernen durch einen Torhüter: Gikiewicz ist nicht die erste Nr. 1, die für die Köpenicker in einem Punktspiel getroffen hat. Auch Oskar Kosche, langjähriges Mitglied des Präsidiums und Geschäftsführer Lizenzierung, ist das einst gelungen. Allerdings in einem weit weniger aufreibenden Spiel eine damalige Spielklasse tiefer, im Dezember 1993 in der NOFV-Oberliga Mitte.
Gegen Brieske/Senftenberg darf in Minute 88 nicht etwa Christian Beeck mit seiner Urgewalt zum Elfmeter ran oder Sergej Barbarez, der später in der Bundesliga und im Nationalteam von Bosnien-Herzegowina für Furore sorgt und nach dem in seiner Geburtsstadt Mostar eine Straße benannt ist, sondern der Keeper. Er verwandelt, weil zuvor schon Antoni Jelen, Dirk Rehbein, Goran Markov und Jens Härtel getroffen hatten, ohne groß Nerven zu lassen oder in Schweiß zu geraten zum 5:0.
Max Kruse trifft „wie im Drehbuch“
Mit der Nachspielzeit, das ist fast zu vermuten, schließen die Köpenicker später nahezu einen Pakt. Nicht gleich im ersten Jahr in der Bundesliga, als müssten sie, um in den Genuss ganz später und zudem entscheidender Tore zu kommen, insgesamt erst ihre Tauglichkeit für die höchste Spielklasse unter Beweis stellen. Aber dann!
Bis zum letzten Moment des Spieljahres 2020/21 heben sie sich diesen speziellen Augenblick auf und für einen Gegner, den die Anhänger besonders gern verlieren sehen: RB Leipzig. Es geht zwischen den Eisernen, Mönchengladbach, Stuttgart und Freiburg um den letzten Platz in Europa. In Minute 90 ist der Kampf verloren, da das Team von Trainer Urs Fischer beim 1:1 sein hauchdünnes Polster eingebüßt hat und Mönchengladbach mit einem 4:2 in Bremen vorbeigezogen ist.

In Minute 90+2 ist es jedoch völlig anders. Da wird die Alte Försterei zum Tollhaus, weil Max Kruse vor 2000 Zuschauern, mehr sind nicht erlaubt und das Ballhaus des Ostens ist damit ausverkauft, das 2:1 köpft und das Ticket für die Conference League sichert. „Wahnsinn eigentlich“, ist sogar Urs Fischer aus dem Häuschen, „ein Spielverlauf wie im Drehbuch. Wenn man es sich ausmalen könnte, würde man es so schreiben.“
Taiwo Awoniyi macht Europa League klar
Für Kruse selbst ist das „Weltklasse, dass wir uns für die herausragende Saison belohnen. Letztes Spiel, letzte Minute, besser geht es nicht.“ Christopher Trimmel, der Kapitän, macht es kurz und prägnant: „Das Wort Wahnsinn trifft es perfekt.“
Exakt ein Jahr später gelingt den Eisernen fast die Wiederholung. Wieder ist das letzte Spiel, diesmal gegen Bochum, bis in die Schlussminuten eine reine Nervenkiste. Nur fällt das 3:2 durch Taiwo Awoniyi, mit dem sich die Rot-Weißen für die Europa League und damit für den nächsthöheren Wettbewerb in Europa qualifizieren, Sekunden vor Anbruch der Nachspielzeit – es hätte noch ein klein wenig besser zum Motto „Schluss ist erst, wenn der Schiedsrichter abpfeift“ gepasst.
Doekhi treibt den Wahnsinn auf die Spitze
Dafür treiben es die Männer aus der Alten Försterei im abgelaufenen Spieljahr mit den Zusatzminuten grandios auf die Spitze. Weil im Heimspiel gegen Mönchengladbach ein Treffer von Rani Khedira nicht zählt und Borussia durch Nico Elvedi in Führung geht, scheint am 30. Oktober die Heimfestung zu bröckeln. Außerdem ist Tabellenplatz eins, den das Team um den Torjäger Sheraldo Becker seit sechs Spieltagen innehat, selbst nach dem Ausgleich durch Kevin Behrens in akuter Gefahr, zumal ein weiteres Tor, diesmal erzielt von Christopher Trimmel, wegen einer hauchdünnen Abseitsposition nicht zählt.

Dann aber bringt die wirklich letzte Aktion in einer furiosen Schlussphase die Explosion: Jamie Leweling flankt nach innen und schickt dem Ball fast flehentliche Blicke hinterher. Die Kugel findet tatsächlich den vorn aufgetauchten Innenverteidiger Danilho Doekhi und von dessen Kopf den Weg ins Tor. Was für ein wilder Ritt! Mit dem 2:1 wird das Stadion zum Hexenkessel, denn mit dem kaum noch vermuteten Dreier bleibt Union Tabellenführer und ebnet mit einem der spätesten Tore der 60-jährigen Bundesligageschichte in Minute 90+7 ein Stückchen des Weges zu einem einzigartigen Saisonspektakel.
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