Union-Kolumne

Awoniyis Tore-Spektakel grenzt an eiserne Zauberei

Um ein Spiel zu drehen, braucht es das, was der 1. FC Union derzeit hat: Können und eine Prise Schnoddrigkeit.

Teilen
Taiwo Awoniyi
Taiwo Awoniyiimago/Jan Huebner

Ging der Gegner auf dem Bolzplatz in Führung, rein zufällig natürlich, hatten wir als Kinder einen flotten Spruch drauf: Wer 1:0 führt, verliert. Das hatten wir uns vom großen Fußball abgeguckt, vom ganz großen sogar. Oft, sehr oft hat es damals gerade in WM-Endspielen dieses Szenario gegeben. Es fühlte sich an, als ob der Weg zum WM-Triumph tatsächlich nur über glühende Kohlen möglich sei.

Gleich bei der Premieren-WM 1930 hatte Argentinien 2:1 geführt, den Titel aber gewann Gastgeber Uruguay mit 4:2. Vier Jahre später in Italien führte die Tschechoslowakei 1:0, am Ende setzten sich die Azzurri mit 2:1 durch. Schweden ging 1958 bei der Heim-WM gegen Brasilien in Führung, bekam aber auch durch den 17-jährigen Pelé mit 2:5 auf die Mütze. Vier Jahre später in Chile half ein zweites Mal den Tschechoslowaken eine Führung nicht, erneut drehten die Zauberer vom Zuckerhut auf und verteidigten mit 3:1 den Titel erfolgreich. Beim nächsten Turnier, 1966, hatte die DFB-Elf um Uwe Seeler und den jungen Franz Beckenbauer gegen England dank der Führung durch Helmut Haller den besseren Start. Der Rest, Englands Ausgleich und die Führung für die Three Lions, das 2:2 durch Wolfgang Weber in letzter Minute, Verlängerung, Wembley-Tor, 2:4 nach 120 Minuten, ist die blanke Legende.

Dass es danach nur noch ein WM-Endspiel gab, in dem ein Team einen Rückstand drehte und Weltmeister wurde, 1974 nämlich, als Paul Breitner und Gerd Müller das schnelle 0:1 durch Johan Neeskens in ein 2:1 verwandelten, gehört auch durch das 0:1 ein paar Tage zuvor gegen die DDR zu den Sternstunden des (bundes-)deutschen Fußballs.

Von einem Rückstand lassen sich die Eisernen nicht mehr ins Bockshorn jagen

So hoch angesiedelt ist das 2:1 des 1. FC Union nach Rückstand jüngst in Mainz natürlich nicht. Eine erstaunliche Qualität aber wird dabei trotzdem deutlich. Die Eisernen lassen sich, selbst wenn sie ins Hintertreffen geraten, längst nicht mehr ins Bockshorn jagen. Zum dritten Mal ist es ihnen in ihren bisherigen 75 Bundesligaspielen gelungen, ein 0:1 doch noch in einen Dreier zu verwandeln. Nach dem 2:1 im Frühjahr gegen Köln und dem 2:1 zum Abschluss der vorigen Saison gegen Leipzig, beide Male half die Alte Försterei ein wenig mit, haben sie dies nun erstmals in der Fremde gewuppt. Eine Premiere, die für die Eisern-Fans etwas von Magie hat und das Tore-Spektakel von Taiwo Awoniyi an Zauberei grenzt.

Die Bärenruhe, die die Köpenicker dabei ausstrahlen, ist sozusagen nicht von dieser Welt. Manchmal fühlt es sich an, als ob jeder einzelne Spieler mit der Erfahrung von weit mehr als 100 Bundesligapartien wuchern würde. Dabei übertreffen von den Spielern, die in Mainz zum Einsatz gekommen sind, lediglich Max Kruse, Robin Knoche, Rani Khedira und Genki Haraguchi diese Marke, vom restlichen Kader gehören nur noch Levin Öztunali und Bastian Oczipka (er aber hat noch keine Minute gespielt) in diese Kategorie.

Dazu, nach einem Rückstand zurückzukommen, braucht es in der Bundesliga – abgesehen von den grandiosen Zuspielen Max Kruses und der Treffsicherheit von Taiwo Awoniyi – eine ganze Menge. Körperliche Robustheit haben sie alle, selbst der Tabellenletzte, das ist die Grundvoraussetzung. Daran hat es den Eisernen noch nie gemangelt. Dazugekommen sind eine große Portion Selbstvertrauen und, nicht zu verachten, eine Prise Schnoddrigkeit. Die aber bekommt man erst, wenn man sich seiner Mittel absolut sicher ist.

Selbst in Unterzahl schlug sich Union grandios

Genau das macht den 1. FC Union dieser Tage und dieser Wochen aus. Er ist in sich derart stabil, dass er sich in Europa beim 1:3 in Prag sogar in Unterzahl grandios geschlagen hat und selbst beim 2:4 in Dortmund zurückgekommen ist, obwohl es dort bis zum 0:3 nach einem Debakel ausgesehen hat. Das, man sollte trotz allem die Kirche im Dorf lassen, kann immer mal passieren. Wichtig ist, um seine Stärke zu wissen, an sie aber auch zu glauben und Geduld zu haben. Wenn dann, wie beim 1:0 gegen Bielefeld, ein spätes Quäntchen Glück dazukommt, läuft es geradezu perfekt.

Geht es um das Drehen von Spielen, ist ein 0:1 eine durchaus hohe Hürde, trotzdem bleibt es die kleinste Hypothek. Bei einem 0:2 wird es schon deutlich schwieriger. In dieser Saison ist das noch keinem Team gelungen. Die WM-Endspiele haben dafür auch erst ein einziges Beispiel parat: 1954, Wankdorf-Stadion, 2:0 führen die unschlagbaren Ungarn um Ferenc Puskas, Ausgleich durch die DFB-Elf um ihren Kapitän Fritz Walter. Und dann: Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Toooor! Toooor! Tooooor! Es ist, Sie wissen es, die Geburtsstunde der Helden von Bern.

Sollten die Eisernen irgendwann einen Zwei-Tore-Rückstand in einen Dreier verwandeln, erlangen sie nicht gleich den Status von Helden. Ein schönes Gefühl wäre es dennoch.