Große KURIER-Serie: Die Väter des Erfolgs, Platz 1

1. FC Union und seine Fans: Keine Liebe kann stärker sein als die eiserne

Gelitten haben sie wie die Hunde, sind aber selbst in schwierigsten Zeiten treu geblieben und genießen umso mehr das Wunder: die Fans.

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Union-Fans feiern ihren Verein, ihre Mannschaft und sich selbst. Die Köpenicker spielen in der Champions League.
Union-Fans feiern ihren Verein, ihre Mannschaft und sich selbst. Die Köpenicker spielen in der Champions League.imago images/Contrast

Aufstieg, Klassenerhalt, Conference League, Europa League, Königsklasse – das ist der 1. FC Union der jüngsten fünf Jahre im Schnelldurchlauf. Dahinter verbergen sich Namen, Ereignisse, Entscheidungen, manchmal auch nur Puzzleteile. Ein Top-20-Ranking ist ein wenig ungerecht, denn ohne den Einen oder das Eine würde es das Ganze, diese Erfolgsgeschichte, nicht geben. Entscheiden bei einem olympischen 100-Meter-Lauf, in dem sich die Weltbesten treffen, Millimeter und Hundertstelsekunden, dann gilt für die Eisernen: Gewonnen haben alle, nur eben mit Nuancen. Auf Platz 1: Unsere Liebe. Unser Stolz. Unsere Mannschaft. Unser Verein.

Heimspiel gegen Bremen. Es sind die letzten 90 Minuten der vorigen Saison. Eine Stunde vor Spielbeginn füllt sich das Stadion. Es ist eigentlich wie immer, wenn ein Bundesligaspiel in der Alten Försterei ausgetragen wird und nicht gerade Corona ist. Jeder, der auf sich was hält, trägt ein Union-Shirt oder einen Eisern-Schal oder einen Hut oder hat wenigstens ein paar rote und weiße Bändchen ums Handgelenk gewunden. Die meisten haben gleich mehrere Dinge am Körper und manche alle. Niemand hat nichts. Der eine oder andere kommt sogar in einem Trikot aus Baumwolle. Eines, das so vielleicht Uli Prüfke getragen hat oder Jimmy Hoge, Bulle Sigusch oder Meter Hendel. Jedenfalls in einem aus ganz alter Zeit, das so Retro ist, dass es Kult ist. Ohne jegliche Werbung, na logo. „Dit jab’s damals ja nich’ inne DDR“, als der Verein fast noch in den Kinderschuhen steckte.

Auch Siege hat es nicht so viele gegeben wie in den vergangenen zwei, drei Jahren, nicht einmal zu Hause. Diesen Luxus aber haben sie sich verdient, und zwar redlich.

Die kultige Anzeigetafel, jedes Tor weckt Erinnerungen

Ein Markenzeichen des 1. FC Union: die alte Anzeigentafel
Ein Markenzeichen des 1. FC Union: die alte Anzeigentafelimago images/Koch

Ein Heimspiel ist wie ein Schmelztiegel der Zeiten und Geschichten, der Niederlagen und Erfolge, der Demütigungen und Widerstände, der Intensivstationen und Wiedergeburten. Die 90 Minuten sind rot-weißes Leben und Leiden, Hoffen und Bangen, sie sind manchmal Frust und viel häufiger Freude. Und wenn Götz Geserick, Uralt-Fan und seit Herbst 1997 Mit-Programmierer des kultigen Stadionheftchens, das in mehr als 500 Auflagen erschienen ist, am Ende, so wie gegen Werder, allen ein 1:0 von der noch viel kultigeren Anzeigetafel zeigt und die Anhänger an der Wuhleseite, also gleich nebenan, das Spieljahr und ihre Fußballgötter feiern, dann geht das nicht ansprechender als mit ihrer Choreo, die alles auf den Punkt bringt: „Wat ’ne Saison, da kannste echt nich’ meckern!“ Da merkt selbst jemand, der, wie ein Gäste-Fan, eher selten die Alte Försterei besucht: Keine Liebe kann stärker sein als die eiserne.

Das war schon immer so und war auch bitter nötig. Nicht immer schien eitel die Sonne über Köpenick und noch seltener war es richtig lauschig. Gelitten haben sie wie die Hunde, haben gezittert um ihren Verein, in Gedanken standen manche schon an seinem Grab, haben Tränen der Rührung vergossen und ihm eine Ruhe in Frieden gewünscht. Um ihm oft im letzten und manchmal im allerletzten Moment doch neues Leben einzuhauchen. Wieder und wieder und wieder.

Es ist fast schon schnulzig, aber: Ohne diesen Verein nicht diese Fans und ohne diese Fans, selbst wenn ab und an doch etwas aus dem Ruder läuft, nicht dieser Verein! Wenn sie dann kurz vor Anpfiff eines Spiels im Ballhaus des Ostens zu Tausenden Schulter an Schulter stehen, die Arme nach oben, einen Schal in den Händen und die Hymne mit ihrem „Eisern Union!“ schmettern, hat das eine ungeheure Wucht und jede Menge Gänsehaut.

Vor 20 Jahren: der Tiefpunkt beim 1. FC Union

Als kaum noch jemand von den Eisernen Notiz nimmt, als die Rot-Weißen in die tiefen Niederungen des Amateurfußballs abgestürzt sind, das ist keine 20 Jahre her, sind es die Fans, die dem Namen Union neuen Glanz verleihen. Das Weihnachtssingen, in dem sich 2003 Torsten Eisenbeiser und 88 weitere Mitglieder des Fanklubs „Alt-Unioner“ auf eigene Faust ob der tristen sportlichen Aussicht – verkorkste Hinrunde in der Zweiten Bundesliga, Rote Laterne, hoher Schuldenberg, zerstrittenes Präsidium – bei Glühwein und Gebäck Mut zusingen und Trost zusprechen wollen, ist längst Kult und mit gut 30.000 Weihnachtssingern ein kultureller Höhepunkt für Berlin. Etliche Vereine, so Schalke, Köln, Dynamo Dresden, Alemannia Aachen und 1860 München, haben die Vor-Heiligabend-Magie kopiert. Das Original aber, das steckt allein, darauf ein „Eisern!“, in der Alten Försterei.

Es fing vor 20 Jahren ganz klein an, jetzt ist es ein Mega-Event: das Unions-Weihnachtssingen.
Es fing vor 20 Jahren ganz klein an, jetzt ist es ein Mega-Event: das Unions-Weihnachtssingen.imago images/Koch

Kaum hatte das Weihnachtssingen Fahrt und Klang aufgenommen, übertreffen sich die Fans ein weiteres Mal selbst: Stadionneu- und -ausbau, eine Mammut-Herausforderung! So gut wie niemand traut ihnen das zu. Viele rümpfen die Nase. Wie nur soll so etwas gehen, wenn Amateure am Werk sind … Bald darauf berichten TV-Sender und Radiostationen, Zeitungen und Zeitschriften aus aller Welt und auch vom anderen Ende des Kontinents voller Staunen darüber. Was da im Ostteil der deutschen Hauptstadt passiert, ist derart unglaublich, dass es filmreif wirkt. Jeder macht das, was er kann. Die Hauptsache ist, er ist dabei.

Zingler, der Baumeister beim 1. FC Union

Unions-Präsident Dirk Zingler auf der Stadionbaustelle 2012
Unions-Präsident Dirk Zingler auf der Stadionbaustelle 2012imago images/Koch

Mittendrin: Dirk Zingler. Auch er kommt aus dem Staunen nicht heraus. „Ich bin hier nicht nur Präsident eines Fußballvereins, ich bin auch Oberbauleiter, Betonlieferant und offenes Ohr für alle Sorgen auf dem Bau.“ Was rund um ihn in diesen Tagen, Wochen und Monaten geschieht, ist eine Erfahrung fürs Leben. Der Boss, selbst einer, der als Fan groß geworden ist, lernt jede Menge über das rot-weiße Gen dazu, weil sie alle kommen und mithelfen: der Professor und der Rechtsanwalt, der Arzt und der Psychologe, die Krankenschwester und die Hebamme, der Schuster und der Bäcker. Diejenigen, die ein Handwerk beherrschen, sind sowieso da. „Wir haben viel stärker erfahren können“, sagt Zingler, „wer ist Union? Union ist die Vielfalt. Für viele ist Union ein Lebensgefühl, der soziale Mittelpunkt, für andere Unterhaltung.“

Am Ende, als nach rund 140.000 Arbeitsstunden das Ding auf der von den 2000 Freiwilligen selbsternannten „geilsten Baustelle der Welt“ eingetütet ist, haben sich die meisten, die es nur beobachtet haben, nicht mehr gefragt, wie so etwas nur gehen soll, sondern sich die Augen gerieben, den Kopf geschüttelt und gesagt: Wie nur haben die das gewuppt, obwohl in der Nachbarschaft ein Flughafen ein Fluchhafen ist?

Sie haben das geschafft und anderes auf die Beine gestellt. Sie organisieren Familientreffs und treffen sich beim Drachenbootrennen, sie spielen Fan-Turniere aus und sie bauen ein Stadion, die Alte Försterei 2, in Südafrika. Sie opfern ihre Zeit und geben ihre Arbeitskraft. Sie entwickeln Ehrgeiz und zeigen Fleiß. Sie liefern Leistung ab und haben dabei sogar Spaß. Vor allem aber haben sie ihr Herz gegeben und es in roten Lettern auf weißem Grund an den Innenrand des Stadiondachs geschrieben: UNSERE LIEBE. UNSERE MANNSCHAFT. UNSER STOLZ. UNSER VEREIN. EISERN UNION!

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