1. FC Union ist dem Himmel so nah, doch auch die Hölle droht!
Der Sieg gegen Freiburg sollte die Köpenicker vor den letzten beiden Saisonspielen noch wachsamer machen

So langsam klappt auch jenen der Unterkiefer herunter, die noch immer nicht daran zu glauben gewagt haben. Mehr und mehr gehen einem die Worte aus über das, was in Köpenick passiert. Es ist ein Rausch, für den der 1. FC Union in dieser Spielzeit sorgt. Nicht erst nach der über weite Strecken einmal mehr brillanten Vorstellung beim 4:2 über den SC Freiburg, trotzdem aber gerade in diesem ersten Endspiel um die Qualifikation für die Champions League. Es fehlt nicht mehr viel und es bleibt nur noch eines: das blanke Staunen.
Halb sind die Münder schon offen zum Jubelschrei und die Arme zum Hochreißen nahezu auf Schulterhöhe. Ein letztes Quäntchen fehlt noch, der letzte Schritt, der den Traum tatsächlich wahr werden lässt. Drei Punkte sind es noch aus zwei Spielen, besser, um auf der ganz sicheren Seite zu bleiben, vier.
Mauer-Meister? Der 1. FC Union kann mehr!
Das ist machbar, trotzdem aber verdammt viel. Das ist, um den Ball flach- und die Sensibilität hochzuhalten, mehr, als die Eisernen im Saisonverlauf erreicht haben. Sie stehen bei einem Punkteschnitt pro Spiel von 1,84. Das ist sensationell, keine Frage, aber jeder weiß: Der Himmel ist nah, noch immer aber droht, zumindest emotional, die Hölle.

Zweimal neunzig Minuten plus Nachspielzeit noch, so dicht ist das ersehnte Ziel. Dabei haben die Rot-Weißen das gemacht, womit sie in den vergangenen Jahrzehnten glänzend gefahren sind: Sie sind sich selbst treu geblieben. Nicht absteigen wollten sie und wurden dafür, als sie im Herbst Tabellenführer waren, belächelt, bespöttelt, fast ein wenig gegeißelt.
Gestichelt wurde auch, und das nicht zu knapp. Notorische Tiefstapler seien sie; Mauer-Meister, naja, typisch Berlin-Ost eben; Den-Moment-nicht-genießen-Könner ...
Vom Spucken großer Töne allein hat noch niemand sein Ziel erreicht
Alles Humbug. Als die 40 Punkte im Sack waren, reihten sie sich ein in die Schlange für das Ticket zum grenzüberschreitenden Verkehr, für Europa. Weil sie es noch immer nicht wagten, sich nach einem Fahrschein für die Königsdisziplin zu erkundigen, für das Fahren erster Klasse, wurden sie wieder und wieder als Spaßbremsen angesehen und nicht als diejenigen, die aufs Gaspedal treten. Nur: Vom Spucken großer Töne allein hat noch niemand sein Ziel erreicht.

Den Mund werden sie auch jetzt nicht vollnehmen, erst recht nicht. Die Fälle, aus denen Reinfälle wurden, schrecken zu sehr ab. Brasilien brauchte 1950, um erstmals Weltmeister zu werden, vor heimischer Kulisse und nahezu 200.000 Zuschauern, im letzten Spiel „nur“ ein Unentschieden gegen Uruguay. Halsbrecherisch wurde auf sonst was gewettet. Nach dem 1:2 soll es noch im Stadion Maracana zu etlichen Selbstmorden gekommen sein.
Dramatische Beispiele gibt es für den 1. FC Union genug
Leverkusen brauchte am 20. Mai 2000, um erstmals Meister zu werden, im letzten Spiel in Unterhaching auch nur einen Punkt. Das 0:2 von Bayer aber machte nur die Bayern froh, und die Werkself vergeht noch immer vor Sehnsucht auf die Schale.
Sechs Jahre zuvor, die Drei-Punkte-Regel war noch nicht eingeführt, lag der 1. FC Nürnberg im Kampf gegen den Abstieg drei Spieltage vorm Saisonende vier Zähler vor dem SC Freiburg. Zwei Niederlagen der aus Franken und drei Siege der aus dem Breisgau später waren die Clubberer unten, und es wurde dramatisch deutlich, warum der Club a Depp is. Noch Fragen?
Gut, dass der 1. FC Union nicht Meister wird ...
Natürlich sollte man den Augenblick genießen, das Hier und Jetzt. Nur sollte man dabei nicht den Gedanken ans Morgen verlieren. Das passiert trotz aller Warnungen nämlich ziemlich oft. In diesem Zusammenhang kommt es womöglich ganz gelegen, dass die Eisernen trotz der vielleicht einmaligen Chance auf den Titel nicht Meister geworden sind.
Dauerhaft oben haben sich die Sensationsteams eher nicht gehalten. Etliche von ihnen sind nur wenige Jahre später abgestürzt. 1973, sechs Jahre nach dem einzigen Meistertitel, ist Eintracht Braunschweig abgestiegen; Nürnberg, 1968 Meister-Nachfolger der Niedersachsen, ist bereits in der folgenden Spielzeit abgeschmiert, a Depp halt; acht Jahre nach dem Titel als Aufsteiger hat es den 1. FC Kaiserslautern erwischt.
Profis des 1. FC Union brauchen Blitzableiter
Auch anderswo gibt es diese Abstürze. Leicester City, in England bis 2008 drittklassig, 2014 in die Premier League zurückgekehrt, Aus-dem-Nichts-Titelträger von 2016 (der in der Alten Försterei ausgebildete Robert Huth war dabei) und noch vor Wochen das Paradebeispiel dafür, welcher Weg auch dem 1. FC Union offenstehen könnte, ist gerade ziemlich am Ende mit seinem Erstliga-Dasein. Nach dem 0:3 am Montag gegen Liverpool sind The Foxes Vorletzter mit mauen Aussichten darauf, in den beiden letzten Partien die Kurve zu kriegen.
Zwei Spiele sind es auch für den 1. FC Union noch, im Gegensatz zu Leicester jedoch am oberen Ende der Tabelle. Jetzt heißt es, nur keine Schnappatmung zu bekommen. Wichtig ist es, Leichtigkeit ins Team zu bringen und jeden Spieler, in dem mindestens 100.000 Volt stecken, mit einem Blitzableiter zu erden. Das kann einer in Köpenick ziemlich meisterlich. Kleiner Tipp: Sein Name fängt mit Fis an und hört mit cher auf. Danach, das geht ganz ohne Training, könnte es auch mit den Armen kerzengerade über der Schulter was werden.
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