Oft fühlt sie sich einsam

Besuch bei DDR-Trainerlegende Jutta Müller: So feiert die 93-Jährige Weihnachten

Nach einem Leben im Trubel fühlt sich die Eiskunstlauflegende meist einsam. Aber nicht in diesen Tagen.

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Trainerin Jutta Müller (re.) mit ihrer berühmtesten Läuferin Katharina Witt.
Trainerin Jutta Müller (re.) mit ihrer berühmtesten Läuferin Katharina Witt.imago sportfotodienst

Es ist ruhig geworden um Eiskunstlauflegende Jutta Müller. Aber immer in den Tagen vorm Fest dreht der Trubel seine Pirouette. Am 13. Dezember beging die erfolgreiche Trainerin ihren 93. Geburtstag. Als der KURIER gratulierte, gestand sie: „Ich gehe nicht mehr viel spazieren. Ich kann nicht mehr so gut laufen. Dafür gucke ich gern aus dem Fenster, denn da liegt mir ganz Chemnitz zu Füßen.“

„Frau Müller fühlt sich einsam, obwohl wir alle immer wieder von uns hören lassen oder vorbeischauen“, beschreibt Olympiasiegerin Katarina Witt die Situation. Das Gefühl der Einsamkeit muss nicht sonderlich verwundern, denn einstige Freundinnen und ehemalige Trainer-Kolleginnen sind inzwischen leider verstorben.

Jutta Müller (Archivbild)
Jutta Müller (Archivbild)imago/HärtelPRESS

Natürlich gehörten zu den Gratulanten auch einstige Eiskunstlauf-Stars wie Dr. Jan Hoffmann (66), Annett Pötzsch (61) und weitere zahlreiche ihrer ehemaligen Läufer und Läuferinnen.

Was die tägliche Betreuung betrifft, wird die einstige Startrainerin von einem Hauspflegedienst umsorgt. Gabriele Seyfert-Körner, Juttas Tochter und einstige Weltklasseläuferin: „Zu Mutters Geburtstag ist meine Tochter Sheila mit meiner neunjährigen Enkelin Karlotta nach Chemnitz zum Gratulieren gefahren. An den Weihnachtsfeiertagen werden Egbert, mein Mann, und ich zwei Tage zu ihr reisen, um es ihr mit uns ein bisschen gemütlich zu machen“, lässt uns Gabriele Seyfert-Körner wissen.

Alte Fotos schaut die ehemalige Trainerin nur noch selten an

Die dicken Alben mit den zahlreichen Fotos aus den Eisarenen der Welt holt die einstige Startrainerin nur noch selten aus den Schrankfächern. „Man wird vergesslich,“ meint die einstmals weltberühmte, immer topgekleidete Kufen-Madonna.

Wenn ihr Blick zum Schreibtisch auf das Foto ihres Mannes Bringfried Müller fällt, huscht meist ein leises Lächeln über das Gesicht der alten Dame. Fast auf den Tag genau 51 Jahre waren Jutta und Bringfried verheiratet. „2016 starb ‚Binges‘, bei dem ich aufgewachsen bin. Seitdem lebt meine Mutter allein in der Wohnung, in die sie mit ‚Binges‘ und mir vor rund 55 Jahren eingezogen ist“, erinnert sich die 73-jährige zweimalige Weltmeisterin Gabriele.

Moderator Florian Silbereisen und Jutta Mueller beim Eistanz während einer Probe zur Fernseh-Show Winterfest der Volksmusik in Magdeburg 2005.
Moderator Florian Silbereisen und Jutta Mueller beim Eistanz während einer Probe zur Fernseh-Show Winterfest der Volksmusik in Magdeburg 2005.imago/Eckehard Schulz

Vereinsfarbe von Wismut Aue war Jutta Müllers Idee

Bei einem unserer früheren Besuche hatte uns Jutta Müller einmal ein Geheimnis verraten. Bringfried Müller spielte für Wismut Aue in der DDR-Oberliga Fußball. Die künstlerischen Einfälle seiner Frau färbten offensichtlich auf den Abwehrspieler ab: „Die Wismut-Kumpel pflegten in 900 m Tiefe ihres Schlemaer (heute Bad Schlema/d.A.) Uranschachtes ein Beet mit Veilchen in Form eines Emblems der BSG Wismut. Jutta fand, das sei eine schöne Trikotfarbe für unsere Mannschaft. Die Vereinschefs ließen damals dann auf meinen Vorschlag hin tatsächlich Trikots in der Veilchenfarbe anfertigen.“ Bis zum heutigen Tage ist das Lila der Veilchen, das einst Jutta Müller vorgeschlagen hatte, die Vereinsfarbe des FC Erzgebirge Aue.

Vieles aus ihrem ereignisreichen Leben hat die Startrainerin vergessen. Beim Stichwort Wien aber kommen sofort die Erinnerungen hoch. Gabriele Seyfert war als EM-Zweite von Ljubljana zur WM 1967 nach Wien gefahren. Die Pflicht, damals noch wichtiger Bestandteil des Eiskunstlaufs, wurde abseits des Stadtzentrums in der Donau-Eishalle ausgetragen. Früh um sieben Uhr mussten die ersten Läuferinnen aufs Eis. Mutter Jutta, von Lampenfieber getrieben, erschien lange vor dem Start mit ihrer Tochter. Als sie Gaby die Schlittschuhe anziehen wollte, wich jeder Tropfen Blut aus dem Gesicht der Mutter. In der morgendlichen Eile hatte die Trainerin statt der Pflicht- die Kürschlittschuhe gegriffen. Das Ende aller Medaillenträume? Wie von einer Tarantel gestochen jagte Jutta Müller aus der Halle, sprang in einen WM-Shuttle und raste zurück ins Hotel. Unterdessen rückte der Uhrzeiger unerbittlich auf die Sieben zu. Jeder wusste, wenn Gaby nicht pünktlich auf dem Eis steht, scheidet sie aus.

Falsche Schlittschuhe für Tochter Gabi Seyfert

Hauptschiedsrichter war damals der leider schon verstorbene Prof. Josef Dedic aus Prag. Der Tscheche fand hier und da noch einen Kratzer auf dem Eis. Also ließ er mehrmals die Eismaschine über das kalte Parkett fahren. Diese 15 Minuten reichten. Jutta Müller flog mit den richtigen Schlittschuhen in die Halle. Trotz der Hektik führte Gaby Bogen und Paragrafen gekonnt vor und lief am Ende zu WM-Silber hinter Peggy Fleming (USA).

Gaby Seifert (li.) mit Trainerin und Mutter Jutta Müller (1969)
Gaby Seifert (li.) mit Trainerin und Mutter Jutta Müller (1969)imago/Camera 4

Mit Jutta Müller als Trainerin glänzten bei EM, WM und Olympia von Gabi Seyfert über Günter Zöller bis zur vorläufig letzten deutschen Europameisterin Evelyn Klaudt-Großmann (1990 in Leningrad). 58-mal Edelmetall bei der Siegerehrung für ihre Schützlinge. Fotos in Frau Müllers Wohnung zeugen von glanzvollen Tagen. Wie das vom Auftritt ihrer Starschülerin Katarina Witt als „Carmen“ bei den Winterspielen 1988 in Calgary. Natürlich sprang, drehte und stampfte sich die schöne Kufenfee zu olympischem Gold und verteidigte damit ihren Olympiasieg von 1984 in Sarajevo. Vor ihr glückte das nur der Norwegerin Sonja Henie 1932 und 1936.

In die Küchwald-Eishalle, rund 80 Jahre Jutta Müllers zweites Zuhause, „komme ich kaum noch. Der Weg ist zu weit“, klagt die früher so couragierte Frau ein wenig traurig. Gerade zu den Weihnachtstagen begeisterte sie früher mit ihren Schülern durch glanzvolle Schaulaufen. In diesem Jahr ist geteiltes Leid, wie man so schön sagt, halbes Leid. Wegen der Pandemie wurden die Kulissen für das geplante Weihnachts-Märchen auf dem Eis wieder abgebaut. Tochter Gaby zieht die Schlittschuhe sowieso nicht mehr an. „Ich halte mich aber trotzdem mit 73 Jahren weiter fit. Jetzt mit Tennis. Seit Alexander Zverev bin ich ein richtiger Fernseh-Tennis-Fan geworden.“ So ändern sich die Zeiten.