Exklusiv-Serie: Der tiefe Fall der DDR-Top-Klubs, Teil 1 : Hol's der Geyer, Energie
Bundesliga war einmal, in Cottbus wird mit der „Vision 2022“ an der Zukunft gebastelt.

Fast hätte es zu einer Masterfrage gereicht, nämlich zu dieser: Welcher Verein hat mehr Spielzeiten in der Bundesliga hinter sich als in der DDR-Oberliga? Da es bislang lediglich fünf Vereine gibt, auf die solch eine Frage überhaupt zutreffen kann, der 1. FC Union mit seiner ersten Saison dem VfB Leipzig aber gerade ebenbürtig geworden ist und Dynamo Dresden und Hansa Rostock in der höchsten Spielklasse in Deutschlands Osten mit jeweils 31 Teilnahmen zum Inventar gehörten, hätte die Antwort ausgemachten Kennern nicht sonderlich viel Kopfzerbrechen bereitet: Hol’s der Geyer, es ist Energie.
Ein wenig aber fehlt den Cottbusern zu diesem Alleinstellungsmerkmal. Im Osten galten sie als Fahrstuhlmannschaft. Fünfmal sind sie aufgestiegen, viermal mussten sie postwendend wieder runter und nur ganz am Ende, von 1988 bis 1991, haben sie drei Spielzeiten am Stück geschafft und sieben insgesamt. Zum Abschluss sind sie als Vorletzter der Oberliga an der Qualifikation für den bezahlten Fußball im vereinten Deutschland dennoch glatt vorbeigerauscht.
Dass die Männer aus dem Stadion der Freundschaft im Nachwende-Fußball trotzdem Geschichte geschrieben haben, ist leicht zu belegen. So 1997 als Finalist im DFB-Pokal (0:2 gegen den VfB Stuttgart) und Aufsteiger in die 2. Bundesliga. Noch mehr mit den beiden Aufstiegen in die Eliteliga (2000 und 2006), zu der sie sechs Spielzeiten gehörten und es eben deshalb nur ganz knapp nicht zur Masterfrage reicht. Auch mit dem Aufreger, dass sie das erste Team in der Bundesliga stellten, das mit elf Ausländern in der Startformation angetreten ist. Das hat zum Großteil mit den damaligen Machern zu tun, mit Trainer Eduard Geyer, Manager Klaus Stabach und Präsident Dieter Krein.
Dieses Trio ist längst nicht mehr am Werk. Es wurde, auch das gehört zu Aufstieg und Fall des FC Energie dazu, teils nahezu unappetitlich vom Hof gejagt. Inzwischen heißen die Gegner auch nicht mehr Bayern München, Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen, sondern VSG Altglienicke, Union Fürstenwalde, VfB Auerbach, ZFC Meuselwitz und Optik Rathenow. Aus der Bundesliga ist nach Misserfolgen hier, Streitereien da und Kompetenzgerangel dort die Regionalliga geworden, 2019 nach dem dann schon zweiten Abstieg aus der Dritten Liga auch in der kommenden Saison die Spielklasse.
Wenigstens jetzt, das erscheint als Lichtblick, haben sie ein wenig wieder zu sich selbst gefunden, nachdem sie sogar mit den Lausitzer Legenden, den Helden von damals, über Kreuz gelegen hatten. Präsident Matthias Auth und René Stiller, der Traditionsbeauftragte, haben pünktlich zum 20. Jahrestag des ersten Aufstiegs in die Bundesliga viele Alt-Stars für ihr Projekt einer Traditionsmannschaft unter dem Dach des Vereins begeistern können. Ihr Motto ist schmissig, und es verschweigt nicht einmal, dass es zuletzt jede Menge Stunk gegeben haben muss: „Was war, das war – was kommt, das zählt!“ Es tauchen Namen auf, die lassen den Fan von wunderbaren, aber längst verflossenen Zeiten träumen: Detlef Irrgang, Jens Melzig, Fritz Bohla, Sven Benken, Vasile Miriuta, und es wird bei künftigen Oldie-Spielen auch die Autogramme der beim 1. FC Union zu Legenden gewordenen Steffen Baumgart, Christian Beeck und natürlich Torsten Mattuschka geben.
Allerdings taugen die Fußball-Götter von gestern bei aller Individualität und Klasse derzeit eher dazu, Vorbild und Ansporn für eine Mannschaft zu sein, die ihren Platz im Heute erst noch finden muss. Nach der abgebrochenen Saison haben sich die Cottbuser zu einem radikalen Schnitt entschlossen, zu einem Neuanfang. Als Trainer Sebastian Abt seine Jungs vorgestern zum ersten Mal auf den Trainingsplatz im Eliaspark gebeten hat, fehlten aus dem Kader der vorigen Saison sage und schreibe 14 Spieler. So ist Ex-Union-Torhüter Jan Glinker, erst vor Monaten von Wacker Nordhausen gekommen, ebenso nicht mehr dabei wie auch die eiserne Leihgabe Berkan Taz.
Das alles hat auch mit fehlendem Geld zu tun. Schwer verschuldet ist Energie durch ehemals teure Trainer, nicht ganz billige Spieler und durch das Stadion, das sie an der Backe haben. Hinter vorgehaltener Hand spricht man von acht Millionen Euro Schulden, ein hoher Zinssatz kommt obendrauf.
Ganz schweren Herzens verzichten sie deshalb auch auf die Dienste von Neu-Legende Dimitar Rangelov. Der Bulgare hätte gern noch ein Jahr gespielt, um danach in anderer Funktion eingebunden zu werden. Das ist um zwölf Monate verschoben, die der Oldie, er ist inzwischen 37, in seiner Heimat verbringen wird. Im Sommer 2021 soll es ein glückliches Wiedersehen geben. Für Rangelov jedenfalls, das steht für ihn fest, ist es ein Abschied nur auf Zeit. „Energie ist für mich eine Herzensangelegenheit“, sagt er, „die Stadt, die Fans und der Verein sind mehr als nur eine Station im Fußball. Ich bin ein Cottbuser.“ Immerhin ist er als einziger Spieler, der die Farben des FC Energie jemals in den vier höchsten deutschen Spielklassen vertreten hat, Publikumsliebling und Identifikationsfigur zugleich.
Deshalb versteht er es, wenn auch mit einem weinenden Auge, dass er als Spieler dem Neuanfang, den sie mit „Vision 2022“ überschrieben haben, im Wege gestanden hätte. Die Idee dahinter fasst Sebastian König, der Sportliche Leiter, so zusammen: „Wir haben eine Philosophie entwickelt, die wir mit jungen, talentierten, aber auch erfahrenen Spielern unterhalb der dreißig Jahre umsetzen möchten.“ Dabei ist es das längerfristige Ziel, „eine Mannschaft zu formen, die in den kommenden Jahren unsere Zuschauer mit modernem, attraktivem und aufopferungsvollem Fußball begeistert“.
Zurück zur Masterfrage, die dann doch gestellt werden kann, nur muss sie ein wenig anders formuliert werden, nämlich so: Wer hat mehr Siege in der Bundesliga erspielt als in der DDR-Oberliga? Wer schon, natürlich Energie, einst so stark wie nie! 36 Erstliga-Erfolge nur haben die Lausitzer vor der deutschen Einheit gefeiert, darunter ganz zuletzt immerhin einen über den da schon schlingernden Rekordmeister BFC Dynamo; aber 56 danach, darunter sogar zwei gegen Rekordmeister Bayern München. Nur, so viel steht bei allen Visionen und Träumen wohl fest, wird es dabei wahrscheinlich ewig, zumindest aber auf ganz lange Zeit, bleiben.