Nachruf

Genie zwischen Popstar und Phlegma: Jürgen „Kuppe“ Nöldner prägte eine komplette Generation von DDR-Fußballern

Der Junge aus Lichtenberg lebte ein Leben für den Fußball. Erst als Kicker und Nationalspieler, dann als Reporter.

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Jürgen Nöldner als Reporter im Fußballstadion
Jürgen Nöldner als Reporter im FußballstadionImago/Camera 4

Linksbeiner sind noch immer besonders im Fußball. Sie strahlen Eleganz aus, Feinheit, ein wenig stehen sie sogar über den Dingen. Begnadet sind sie, vom Fußball-Gott bevorzugt, wenn nicht sogar geküsst, vor allem in einer Zeit, in der die Techniker es viel schwerer hatten als in der Moderne, sich gegen Kraft und Athletik, Kampf und Tempo zu behaupten.

Einer, dem das vom ersten Tag an gelungen ist, ist Jürgen Nöldner. Dabei hat er es, am 22. Februar 1941 in Lichtenberg geboren, nicht leicht. Gerade drei Jahre alt ist er, da wird sein Vater Erwin, ein erbitterter Gegner des Naziregimes, im Zuchthaus Brandenburg-Görden durch das Fallbeil hingerichtet. In seinem Abschiedsbrief schreibt er an seine Frau: „Sollten wir uns nicht mehr wiedersehen, liebes Mädel, verzeihe mir, doch eines kann ich Dir sagen: Ich habe nichts so sehr geliebt wie Dich und meinen süßen Jungen.“

Der Mann, nach dem in Berlin der Nöldnerplatz benannt ist, hätte viel Freude an seinem Sohn gehabt. Der spielt Fußball zunächst bei Sparta Lichtenberg, später bei Turbine Bewag und in der Mannschaft der 15. Oberschule. Er wird, da schon beim ASK Vorwärts, Junioren-Nationalspieler, erzielt für die damalige Meisterelf in deren erstem Spiel im europäischen Meistercup gegen Englands Titelträger Wolverhampton Wanderers als 18-Jähriger das erste Tor.

Nöldner konnte sich selbst auf die Schippe nehmen

„Kuppe“, wie sie ihn bei Vorwärts und im ganzen Land nennen, wird so etwas wie ein Popstar und hat die seltene Gabe, sich ein wenig sogar selbst auf die Schippe zu nehmen. Seine vielleicht einzige Schwäche, die beim Kopfball, wischt er locker-flockig so weg: „Das Spiel, das ich spiele, heißt Fußball und nicht Kopfball.“

Trotzdem folgen viele Tore, sehr viele sogar, darunter schöne und vor allem wichtige. Sie helfen – in drei Spielzeiten gehört Nöldner zu den Top Ten der Torjäger in der Oberliga – den Armee-Fußballern zu fünf weiteren Meistertiteln und zu einem Triumph im FDGB-Pokal. Auch das Nationalteam ist in den 1960er-Jahren ohne den Halblinken kaum vorstellbar.

Jürgen Nöldner bei einem Auswahlspiel der DDR 1967 gegen Rumänien
Jürgen Nöldner bei einem Auswahlspiel der DDR 1967 gegen RumänienImago/Werner Schulze

Als damals fünftjüngster Spieler kommt er ins Team und prägt es mit seinem eleganten Stil. In 30 Länderspielen erzielt Nöldner 16 Treffer, ist damit zwischenzeitlich Rekord-Torschütze (später folgen der Dresdner Hans-Jürgen Kreische und der Magdeburger Joachim Streich), er wird 1966 zum Fußballer des Jahres und 1989 in die „Traum-Elf 40 Jahre Oberliga“ gewählt.

Legendär ist sein schnellstes Länderspieltor, das er 1965 in Leipzig im WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich erzielt, ohne dass die Gäste auch nur an den Ball gekommen sind. Auch in der Olympia-Elf, die 1964 in Tokio Bronze gewinnt, ist er eine Stütze. Kein Wunder ist es deshalb, dass die sowjetische Kosmonautin Walentina Tereschkowa, die erste Frau im All, bei ihrem DDR-Besuch den publikumswirksamen Ehrenanstoß vor einem Länderspiel gerade mit Nöldner ausführt.

Nach der Karriere wurde Nöldner Sportreporter

Der Junge aus Lichtenberg, dem lediglich ein wenig sein sprichwörtliches Phlegma im Weg steht, prägt eine ganze Fußballergeneration. Auch mich, der ich mich an ihm orientierte, und der ab 1976 mein Kollege beim Deutschen Sportecho, der Sporttageszeitung in der DDR, war.

Dort lernte ich ihn als lockeren, trotzdem engagierten, durch und durch fachkundigen, vor allem aber immer wieder witzigen Partner kennen, von dessen Kompetenz später das Sportmagazin Kicker profitierte.

Jürgen Nöldner – hintere Reihe, Dritter von links – im Kreis der Kollegen vom ASK Vorwärts Berlin
Jürgen Nöldner – hintere Reihe, Dritter von links – im Kreis der Kollegen vom ASK Vorwärts BerlinImago/Werner Schulze

Keine drei Monate ist es her, da sahen wir uns bei einem runden Geburtstag zum letzten Mal. „Nicht gut“, sagte er, gehe es ihm nach einem Unfall, bei dem er unglücklich gestürzt sei.

Trotzdem hatte er seinen Humor nicht verloren, schmiedete gemeinsam mit seiner Frau Heidi Pläne. An die Ostsee wollten sie wie so oft fahren. Ein gesundheitlicher Rückschlag aber machte all die Pläne zunichte. Nun ist Jürgen Nöldner, das Genie zwischen Popstar und Phlegma, am Montag 81-jährig verstorben.                                      

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