Die Olympia-Goldgrube von Schöneweide: Ein bisschen DDR rodelt immer mit
Hier, in einem Industriegebiet im Bezirk Treptow-Köpenick, werden Medaillen gemacht. Die Spezialisten im Osten Berlins bauen die Bobs und Schlitten, mit denen unsere Sportler schon fünfmal Gold holten. Schon seit 1962 forschen das FES an immer schnelleren und besseren Sportgeräten.

Gestern gab es wieder Gold und Silber bei Olympia. Für Christopher Grotheer und Axel Jungk im Skeleton. Auch dank Berliner Unterstützung durch das FES, die Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte, die die Schlitten fit für Peking machten. Es wäre nicht verwunderlich, wenn in der Villa in der Tabbertstraße im Berlin-Schöneweide jeden Tag die Sektgläser klingen würden. Der Medaillenrausch im „Yanqing National Sliding Center“ von Peking gäbe reichlich Anlass dazu. „Wir bleiben bescheiden. Wir bieten mit unserer Arbeit nur die Grundlage für sportliche Leistungen. Die Hauptarbeit vollbringen die Athleten und die Trainer“, sagt am späten Donnerstagabend unmittelbar vor seinem Abflug nach Peking FES-Direktor Michael Nitsch (63).
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Nitsch will pünktlich zu den Bob-Starts in Peking vor Ort sein. Ähnlich wie der Direktor spricht auch Rodel-Projektleiter Carsten Ludwig (42) in Oberhof: „Wir liefern die Rohdiamanten, andere geben den Geräten dann den letzten Schliff, wie zum Beispiel Georg Hackl in Berchtesgaden. Der mit große Liebe an den Kufen arbeitet.“

„Mache Geräte fußen allerdings ausschließlich auf unserer Arbeit, wie zum Beispiel die Schlitten für die Skeleton-Athleten“, gibt Direktor Nitsch zu. Ein bisschen rutscht auch immer noch die DDR mit durch die Kunst-Eisschlangen der Welt, wie im Treppenhaus des Berliner FES, der Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte, an der Ehrengalerie des deutschen Sports klar zu erkennen ist. Fotos von Olympiasiegern wie Radsprinter Lutz Heßlich, Bobpilot André Lange oder Rodlerin Sylke Otto begleiten einen auf dem Weg nach oben in das Zimmer des Direktors.
Der erste Weltmeister-Titel in einem FES-Boot wurde 1963 erkämpft
Wie viele Athleten rutschten, schipperten, glitten oder radelten auf FES-Geräten zu Medaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften? Michael Nitsch zuckt mit den Schultern: „Bei 500 Medaillen hat mein Vorgänger Harald Schaale schon vor Jahren aufgehört zu zählen.“
Die Ehren-Tafel beginnt mit dem Weltmeistertitel 1963 im Kanu-Vierer. Die Ehrengalerie endet im Moment 2013 mit den Rodel-WM in Whistler (Kanada) und den Namen der damaligen Weltmeister Tobias Arlt/Tobias Wendl. Das Duo ist auch das aktuelle olympische Gold-Doppel. „Die Wand ist voll mit Namen beschrieben, jetzt müssen wir uns einen neuen Ort für unsere Ehrentafel suchen. Noch wissen wir nicht wo“, sagt Nitsch und meint: „Ich habe noch gar nicht daran gedacht, aber wir begehen im nächsten Jahr unser 60. Jubiläum des ersten Weltmeistertitels auf einem FES-Gerät. Da müssen wir uns etwas einfallen lassen.“

Das Berliner Institut gehört heute zum Stolz des deutschen Sports. Das war nicht immer so. In den Wirren der Wende wäre das FES beinahe verschwunden. Aber drei Sportfunktionäre aus dem Westen kämpften für die Ost-Institution: DSB-Präsident Manfred von Brauchitsch, IOC-Mitglied Walter Tröger und DRV-Präsident Heinrich Lotz.
Drei Männer aus dem Westen retteten die Sport-Institution aus dem Osten
Die Männer „haben uns und das FES, die Sportschule Kienbaum und das Institut für angewandte Trainingswissenschaften in Leipzig gerettet“, sagt Ruheständler Harald Schaale. „Heute sind das drei ganz wichtige Sportinstitutionen, die für die Topathleten immer mehr an Bedeutung gewinnen“, betont Direktor Nitsch. Goldstar Anni Friesinger (44) schwor einst auf ihren FES-Eisschnelllauf-Stahl: „Mit den Klappschlittschuhen vom FES spürte ich sofort einen Leistungszuwachs. Ich möchte auf diese Schienen nicht mehr verzichten.“
Harald Schaale übernahm nach der Wende die Führungsposition am FES. Er gehörte seit 1981 der Schöneweider Tüftler-Truppe im Osten Berlins an und gab seinen Job 2019 an Michael Nitsch weiter: 35 Diplom-Ingenieure, 35 handverlesene, hoch qualifizierte Handwerker und zehn Verwaltungsangestellte stehen hinter FES. Zu ihnen gehört auch der mehrmalige Vizeweltmeister im 1000-Meter-Bahnrad-Zeitfahren und heutige Diplom-Informatiker Sören Lausberg (52) als Chef der Messtechnik. „Um unsere Aufgabe zu erfüllen, benötigen wir Spezialisten aus der Hochtechnologie. Kunststoffspezis, Elektroniker und Feinmechaniker sind besonders gefragt“, erklärt Nitsch.

Das Institut arbeitet ganz eng mit der Humboldt-Universität und der Freien Universität sowie mit den TUs in Dresden, Chemnitz und der „Otto von Guericke“-Hochschule in Magdeburg zusammen. Jedes Jahr holen sich die FESler Praktikanten und Diplomanden von den Unis aus ganz Deutschland. „Die Besten von ihnen erhalten von uns nach erfolgreichem Ingenieurstudium ein Angebot als Mitarbeiter. Auf diese Weise rückt immer wieder Spitzennachwuchs in unser Team“, freut sich Nitsch.
Das war nicht immer so. Das FES wurde auf Betreiben des damaligen DDR-Ruderpräsidenten Alfred Neumann bereits 1962 gegründet. In erster Linie sollten Ruder- und Segelboote konstruiert werden, die dem Weltspitzenniveau entsprachen. Schon 1966 ruderten die DDR-Sportler auf dem Bergsee von Bled zu dreimal Gold. Mit dem Rostocker Paul Borowski und später Jochen Schümann (Berlin) kreuzten Segler auf olympischem Medaillenkurs. „Der große Durchbruch im Bootsbau glückte 1976. Die Ruderboote wurden aus glasfaserverstärkten Kunststoffen in Sandwichbauweise gefertigt. Eine Revolution. Die Boote verloren merklich an Gewicht, waren bedeutend leichter und damit schneller“, erklärt der FES-Chef. Heute schiebt die ganze Welt Kunststoff-Boote ins Regattawasser.
Schon jetzt wird an den Bobs und Schlitten für Olympia 2026 gearbeitet
Wie sich intensives Grübeln auszahlen kann, erlebten die Sportfans 2004 bei Olympia in Athen. Damals setzte sich der deutsche Frauen-Kanu-Vierer um Bugballbreite gegen Ungarn bei der Jagd nach Gold durch. „Vielleicht haben wir den Sieg unseren Hightech-Spritzdecken zu verdanken“, vermutete damals Kanu-Queen Birgit Fischer.
Für eine Sensation sorgte die Schöneweider Hightech-Truppe bei den Spielen 1988 in Seoul. Als der damalige DDR-Straßenrad-Vierer mit Uwe Ampler, Jan Schur, Mario Kummer und Mike Landsmann auf den „schwarzen Raketen“ zu Gold raste. Schon 1984 erfanden die Ostberliner das selbst tragende Scheibenlaufrad.
„Aus der Luftfahrttechnik probierten wir 1987, mit gewickelten Kohlefasern einen Rahmen zu bauen. Das Experiment glückte. Der Rahmen fiel extrem leichter aus und war an Festigkeit kaum zu übertreffen“, erklärt nach dem Sieg Jan Schur. Der Rahmen setzte sich durch. Jan Ullrich gewann damit zwei Weltmeistertitel. Beim früheren Radteam Telekom wurden die Zeitfahrräder sogar mit Farben einer italienischen Firma gespritzt, darunter aber steckten die Rahmen des FES. Inzwischen baute die ganze Welt die FES-Räder nach.
Das FES ist heute nicht mehr wegzudenken. Michael Nitsch ist zufrieden: „Wir arbeiten geradezu ideal mit dem Bundesministerium des Inneren zusammen. Der DOSB hat längst erkannt, dass wir gegen das Doping nur mit dem Fleiß der Sportler und einer ausgeklügelten, wissenschaftlichen Trainingsmethodik und Hightech-Sportgeräten ankämpfen können.“
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Neben Skeleton, Skilanglauf und Skispringen (Nitsch: „Wir bauen die Bindungen für Karl Geiger und Co.“), Bob, Schlitten, Kanu und Rudern kümmert sich das FES auch um die Messtechnik beim Schwimmen und in der Leichtathletik. Direktor Nitsch sieht sich in der Zukunft nicht vor unlösbare Aufgaben gestellt: „Mit unserem bundeseigenen, neuen Gebäude, unseren Fachleuten und den Diplomanden, die zu uns drängen, sind wir für neue Aufgaben gerüstet. Mit einem Etat von 7,2 Millionen können wir einiges anfangen. An Bob und Rodel, Schnelllaufschienen und Ski für Olympia 2026 in Mailand wird bereits gearbeitet.