Depeche Mode-Sänger Dave Gahan live auf Global Spirit Tour in der Berliner Waldbühne
Depeche Mode-Sänger Dave Gahan live auf Global Spirit Tour in der Berliner Waldbühne Foto: Imago Images

Auf Live-Konzerte werden wir angesichts der derzeitigen Corona-Situation wohl noch eine ganze Weile verzichten müssen. Ein Umstand, der das oft ein wenig belächelte Medium Live-Album wieder mehr in den Fokus spült. Und das ist vielleicht eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen der Pandemie – denn es gibt ein paar Live-Alben, die man definitiv mal gehört haben sollte.

Johnny Cash – „At Folsom Prison“ (1968)

Das hier aufgezeichnete Konzert begann um zwanzig vor zehn. Zwanzig vor zehn Uhr morgens wohlgemerkt. Denn Schauplatz des Gigs, den Johnny Cash am Morgen des 13. Januars 1968 gibt, war das Gefängnis von Folsom in Kalifornien, das mit seiner Null-Toleranz-Strategie lange Zeit als härtestes Gefängnis der Vereinigten Staaten galt. Und dieser 70-minütige Auftritt im Speisesaal der Anstalt sollte Johnny Cashs Leben für immer verändern. Die fünf vorherigen Jahre hatte er mit Drogen zu kämpfen – bis er sich in den Kopf setzte, als erster Musiker ein Live-Album im Gefängnis aufzunehmen. Roh und authentisch, aber mit Witz und Esprit lieferte Cash diesen Auftritt seines Lebens ab. Immer wieder klingt die aufgeheizte Stimmung durch und man spürt, wie Cash mit seinem düsteren Country-Blues bis ins Herz der gebeutelten Insassen durchdringt. Die Platte wurde ein Megaerfolg, Johnny Cash feierte ein fulminantes Comeback. The man in black was back.

James Brown And The Famous Flames – „Live At The Apollo“ (1963)

James Brown war 30 Jahre alt und auf dem Höhepunkt seiner Karriere, als ihm in den Sinn kam, seine gefeierten Live-Auftritte im legendären Apollo Theatre in Harlem aufzuzeichnen. Eine Idee, die der Chef seines damaligen Plattenlabels nur wenig erfolgversprechend fand. Er weigerte sich, die Platte zu finanzieren. Die Produktionskosten übernahm Brown daher selbst – zum Glück. Denn „Live At The Apollo“ dokumentiert James Brown als den dynamischen Ausnahme-Performer, der er war, und den die meisten von uns leider nie live gesehen haben. Über ein Jahr hielt sich dieses Album in den US-amerikanischen Charts und wurde vom Rolling Stone zum besten Live-Album aller Zeiten gekürt.

Nirvana – „MTV Unplugged In New York“ (1994)

Eigentlich alles an dieser Platte gleicht einem Wunder. Zuerst einmal die Tatsache, dass es überhaupt zu den Aufnahmen kam. Denn mit dem Musiksender MTV stand Kurt Cobain damals auf Kriegsfuß und weigerte sich lange, den Gig überhaupt zu spielen. Als Nirvana doch überraschend zusagten, glichen die Proben einem Fiasko, nichts klappte – mit einem Akustik-Setting hatte die Band einfach keinerlei Erfahrung. Dem Druck des Senders, Hits wie „Smells Like Teen Spirit“ zu spielen, widersetzte sich die Band erfolgreich – überhaupt bestand knapp die Hälfte ihres Sets aus Coversongs, und die Gäste waren ein paar unbekannte Indierockmusiker. Doch wer damals Zeuge der Aufnahmen wurde, erlebte eine Band, die in all ihrer Fragilität pure Magie erzeugte. Ein halbes Jahr nach den Aufnahmen nahm sich Frotmann Kurt Cobain das Leben. Diese Platte ist eine seiner schönsten Hinterlassenschaften.

Depeche Mode – „101“ (1988)

Dieses Live-Album von Depeche Mode wirkt weniger wie ein Live-, sondern mehr wie ein Best-Of-Album – mit sämtlichen großen Hits aus der ersten Schaffensphase der Band. Die Aufnahmen fanden 1988 vor 60.000 Menschen im Rose Bowl Stadium in Pasadena statt – dem 101. und letzten Konzert ihrer „Tour For The Masses“-Tour. Stücke wie „Black Celebration“ oder „The Things You Said“ wirken sogar kraftvoller als die Studioversionen, und die Ballade „Everything Counts“, dessen Refrain am Ende des Stücks allein vom Publikum gesungen wird, entfacht eine solche Sogwirkung, dass die Band das Stück prompt ein zweites Mal als Single veröffentlicht – und zwar mit größerem Erfolg als mit der Originalversion. „101“ markiert den perfekten Schlusspunkt einer Ära, nach deren Ende Depeche Mode musikalisch ein neues Kapitel aufschlugen. Denn nur ein Jahr später erschien ihr vielleicht wichtigstes Album: „Violator“.

Motörhead – „No Sleep ‘Til Hammersmith“ (1981)

Unter Metal-Fans gilt Motörheads „No Sleep Til Hammersmith“ als eines der besten Live-Alben des Genres – und das vollkommen zurecht. Die Platte ist ein Zusammenschnitt aus vier Konzerten ihrer „Short, Sharp, Pain In The Neck“-Tour (eine Anspielung auf einen Unfall des Schlagzeugers während einer After-Show-Party), die Motörhead in der wohl besten Besetzung und auf dem Höhepunkt ihres Schaffens zeigt. Die Band spielt wild, schnell und ungestüm, aber zu jederzeit tight und on point. Der charismatische Frontmann Lemmy Kilmister lässt in seinen knappen Ansagen immer mal wieder den Schelm durchblitzen, aber in erster Linie besticht die Platte durch die rohe, treibende Power, mit der jeder Song versiert ins Ziel gepeitscht wird. Kleiner Side-Fact am Rande: Im Londoner Hammersmith Odeon, auf das der Titel Bezug nimmt, haben Motörhead bei ihrer Tour überhaupt nicht gespielt.

Die Ärzte – „Nach uns die Sintflut“ (1988)

Im Rückblick ist es unfassbar, mit welcher Dichte an Hits Die Ärzte 1988 bereits aufwarten konnten. Und mit „Nach uns die Sintflut“ wollten sie ihre Karriere ja eigentlich auch besiegeln. Das Album war als Goodbye-Goodie ihrer „Die beste Band der Welt“-Tournee gedacht, mit der sie Ende der Achtziger ihre Auflösung beschlossen – und kickte dann kurzerhand U2 und deren „Rattle And Hum“-Album von Platz 1 der Charts! Der Deutschrocker Peter Maffay rief damals sogar aufgeregt bei der Grafikagentur der Ärzte an, fassungslos darüber, wie es so ein Lärm auf Platz 1 schaffen kann. Doch verwunderlich ist dieser Erfolg keineswegs: Etliche Hits, eine unfassbare Spielfreude und ein hochamüsantes Kokettieren mit dem Publikum, machen „Nach uns die Sintflut“ zu einem absoluten Juwel unter den Live-Alben. Die Trennung der Band hielt dann ja auch nur fünf Jahre an, 1993 meldeten sich Farin, Bela und der neu dazugestoßene Rod 1993 zurück – mit dem Album „Bestie in Menschengestalt“ und dem Ärzte-Hit schlechthin: „Schrei nach Liebe“.

Nina Simone – „At Town Hall“ (1959)

Als Nina Simone damals in der altehrwürdigen New Yorker Venue Town Hall spielte, war es das erste Mal, dass Menschen nur wegen ihr ein Konzert besuchten. Und sie taten gut daran, denn was Nina Simone da musikalisch ablieferte, war einfach atemberaubend. Sie spielte und sang nur wenige Eigenkompositionen, doch wie sie sich der Stücke von Billie Holiday („Fine And Mellow“) oder George Gershwin („Summertime“) annahm, klang so, als wären diese Lieder für niemand anderen als sie selbst geschrieben worden. Jedem Stück widmete sie so viel Herz, so viel Respekt, als würde sie ein frisch geborenes Baby in Händen halten. Die Kritiken, die Simone damals für ihre Konzerte erhielt, waren euphorisch. Diese Platte belegt, wieso.

MC5 – „Kick Out The Jams“ (1969)

Ungewöhnlich, wenn ein Live-Album gleichzeitig das Debütalbum einer Band ist – so geschehen bei den Proto-Punkern von MC5. Der damalige A&R von Elektra Records, Danny Fields, war der Ansicht, es sei nur live möglich, die unglaubliche Energie der Band einzufangen – und das dürfte stimmen. Denn was die Jungs da musikalisch im Grande Ballroom ihrer Heimatstadt Detroit vom Stapel ließen, war vertontes Adrenalin. Beeinflusst von der Live-Power eines James Brown zündeten MC5 ein beeindruckendes Proto-Punk-Feuerwerk, mit dem die Band eine musikalische Radikalisierung einläutete, die erst von The Stooges um Iggy Pop, später von Acts wie The Damned, The Hellacopters und The White Stripes weiter vorangetrieben wurde. Damit ist „Kick Out The Jams“ vielleicht das einflussreichste Live-Album überhaupt.

Portishead – „Roseland NYC Live“ (1998)

Eine Live-Show von Portishead ist nicht zu vergleichen mit dem einer ausrastenden Rockband. Geoff Barrow und Adrian Utley bearbeiten stoisch und versiert ihre Instrumente, während Sängerin Beth Gibbons wie vor der eigenen Melancholie erstarrt in der Bühnenmitte verharrt. Und dennoch: Diese Atmosphäre, dieses tiefe Meer aus Traurigkeit, dieses krakenhafte Festklammern an den düstersten Ecken der Seele, das kriegt kaum eine Band so fesselnd, verstörend und beängstigend hin wie die TripHop-Urgesteine von Portishead. Während der Tour und der Aufnahmen im New Yorker Roseland Ballroom wurde die Band vom 35-köpfigen New Yorker Philharmonieorchester unterstützt. Das ließ sämtliche Songs noch mal in einem neuen Licht erstrahlen; und das, obwohl in dem musikalischen Spektrum, in dem sich Portishead bewegen, eigentlich nichts als tiefschwarze Dunkelheit herrscht.

The Rolling Stones – „Get Yer Ya-Ya’s Out! - The Rolling Stones In Concert“ (1970)

„Get Yer Ya-Ya’s Out!“ ist das erste Live-Album, das in Großbritannien Platz 1 der Charts erreichte. Und das ist kein Wunder. Denn die Rolling Stones spielen auf der Platte, aufgenommen bei Shows in Baltimore und New York, dermaßen agil und beseelt auf, dass es einen mit purer Lebensfreude auf die imaginäre Tanzfläche peitscht. Keith Richards Gitarrenspiel ist makellos und Mick Jagger gibt den rigorosen Vollblut-Performer, der er nun mal ist. Die Live-Versionen von „Honky Tonk Women“ und „Street Fighting Man“ am Ende der Platte treten einem mit ihren dreckigen Lederstiefeln ein nicht enden wollendes Grinsen ins Gesicht. So und nicht anders muss Rock ’n’ Roll klingen.

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