Krämpfe können sehr schmerzhaft sein. 
Krämpfe können sehr schmerzhaft sein.  Foto:  imago/Westend61

Die Idee, mit einem simplen Metall wie Magnesium Krämpfe zu stoppen, war schon immer auch aus Verzweiflung geboren. Anfang des 20. Jahrhunderts wunderte sich ein Mediziner in Philadelphia darüber, dass Bergarbeiter in heißen Stollen besonders häufig unter den Muskelbeschwerden litten. Mit seiner Erklärung für das Phänomen schien er erstmals das verzweifelt gesuchte Gegenmittel zu liefern.

Harte Anstrengung und Hitze, spekulierte David Edsall, führen dazu, dass der Körper mit dem Schweiß Elektrolyte wie Natrium und Kalium verliert. Auf die ist das Nervensystem angewiesen, um die Befehle des Rückenmarks an die Muskeln weiterzuleiten. Geraten sie aus dem Gleichgewicht, wird die Signalleitung störungsanfällig, sodass sich die Muskeln selbstständig machen können. Magnesium, so weiß man, kann helfen, die Nervenleitung zu stabilisieren. Insofern schien es logisch, große Mengen davon zu schlucken, um Krämpfe zu verhindern.

Rund jeder zweite Radsportler und Triathlet hat mit Muskelkrämpfen zu kämpfen. Aber auch ein Drittel der älteren Menschen wird regelmäßig durch sie aus dem Schlaf gerissen. Man muss sich also nicht wundern, dass Magnesiumpillen zum Verkaufsschlager wurden in Drogeriemärkten und Apotheken.

Scheinpräparate ebenso gut wie Magnesium

Geholfen haben sie wahrscheinlich wenig. Vor sechs Jahren zeigten zum Beispiel israelische Mediziner: Verabreicht man Versuchspersonen Magnesium und gibt anderen wiederum Pillen, die nur vortäuschen, das Metall zu enthalten, sinkt die Zahl der nächtlichen Wadenkrämpfe pro Woche zwar von acht auf fünf. Nur gilt das genauso für die Versuchspersonen mit den Scheinpräparaten.

Auch der Neurologe Rainer Lindemuth vom Albertus Magnus Arztzentrum in Siegen suchte mit Kollegen vergeblich nach Belegen für eine Wirksamkeit von Magnesium bei Krämpfen. Im Auftrag der deutschen Fachgesellschaft für Neurologie hat das Team eine Leitlinie zum Thema geschrieben. Nur bei Schwangeren, sagt er, seien schwache Effekte nachgewiesen.

Als komplexer als angenommen haben sich auch die Ursachen des Leidens erwiesen. Warum treten Krämpfe zum Beispiel in den Waden viel häufiger auf als in anderen Körperregionen, wo doch eigentlich alle Muskeln unter dem Elektrolytmangel leiden?, wunderte sich in den 1990er-Jahren Martin Schwellnus an der Universität Kapstadt. Nicht ins Bild passte auch, dass Studien zufolge nicht etwa diejenigen Athleten mit den niedrigsten Natrium- und Kaliumwerten im Blut am häufigsten unter Krämpfen leiden, sondern diejenigen, die sich am meisten anstrengen.

Der Sportmediziner glaubt deshalb, dass hinter dem Phänomen ermüdete Rezeptoren stecken, die falsche Informationen über den Zustand der Muskulatur liefern. Ohne diese korrigierenden Signale feuern die Rückenmarks-Nervenzellen ungebremst weiter, sodass sich die Fasern immer weiter kontrahieren.

Rainer Lindemuth sieht den Muskelkrampf deshalb inzwischen als Leiden, hinter dem verschiedene Mechanismen stecken können, die sich zudem manchmal gegenseitig verstärken. Beim Sport sollen zum Beispiel der Elektrolytmangel und die entleerten Energiespeicher der Muskeln dazu führen, dass die belasteten Fasern empfindlicher werden.

Ist die Krampfschwelle erst einmal gesunken, reicht schon ein starker Flüssigkeitsverlust oder eine falsche Bewegung aus, um in den schwach isolierten Nervenenden im Muskel eine Art Kurzschluss auszulösen. Die Folge: Die Nervenenden beginnen, selbständig Erregungssignale zu senden. Ein typischer Auslöser ist die Verkürzung der Wadenmuskulatur bei Überstreckung des Fußes – manchmal soll hierfür sogar schon der Druck einer schweren Bettdecke ausreichen. Alte Menschen sind allein schon deshalb anfälliger, weil die Nerven mit den Jahren zunehmend ihre Isolation einbüßen.

In seltenen Fällen können hinter Krämpfen aber auch größere Probleme stecken. Treten die Symptome zum Beispiel nicht nur in den Beinen, sondern auch in den Armen und womöglich sogar im Rumpf auf oder sind sie mit Muskelschwäche oder Taubheits- und Kribbelgefühlen verbunden, kann dahinter ein generalisiertes neurologisches Leiden wie Nervenschäden in Armen und Beinen (Polyneuropathie), die Muskelerkrankung Amyotrophe Lateralsklerose, Multiple Sklerose oder ein Schlaganfall stecken. Aber auch harmlosere Erkrankungen wie eine Schilddrüsenunterfunktion sowie bestimmte Medikamente können zu Krämpfen führen. Ähnliches gilt für Wirbelsäulenprobleme, wenn die Bandscheiben durch ihren Druck die Nerven reizen.

Gin Tonic ohne Gin

In Hinblick auf die Therapie sind seit David Edsall zumindest ein paar Fortschritte zu vermelden. Überstrecken und Dehnen scheinen zum Beispiel nicht nur gegen die Schmerzen selbst zu helfen. Derlei Übungen  können auch Krämpfe verhindern. Sechs Wochen lang ließen niederländische Forscher Betroffene sich vor dem Ins-Bett-Gehen dehnen. Danach sank die Zahl ihrer nächtlichen Episoden von drei auf eine – anders als bei den Kontrollpersonen. Auch Einlagen für die Schuhe, sagt der Neurologe Helge Topka von der Klinik Bogenhausen in München, können gelegentlich helfen, weil sie überlasteten Muskelgruppen Erleichterung verschaffen.

Beim Sport gelte es wiederum, durch das ausreichende Trinken isotonischer Getränke Natrium- und Flüssigkeitsverluste zu vermeiden und die eigenen Leistungsgrenzen anzuerkennen. Bei Chinin, dem Medikament mit nachgewiesenermaßen größtem Nutzen, rät er eher zur Zurückhaltung. Denn das Malariamittel Chinin hat viele potenzielle Nebenwirkungen, zum Beispiel Gerinnungsstörungen. Bliebe noch ein letzter ungeprüfter Rat eines Züricher Neurologen: Gin-Tonic ohne Gin trinken – denn Tonic Water enthält Chinin in unbedenklichen Mengen.