Die Pandemie mit Lockdown und Homeoffice ist für viele Paare eine echte Belastungsprobe.
Die Pandemie mit Lockdown und Homeoffice ist für viele Paare eine echte Belastungsprobe. Foto:  imago images/Westend61

Der Paartherapeut Fabian Lenné hat seine Praxis im Berliner Bergmannkiez. Seit mehreren Jahrzehnten ist er Paartherapeut und berät Menschen in Beziehungen, die in Not geraten. Wir erreichen ihn am Telefon, um über die Herausforderungen für Paare während der Pandemie zu sprechen.

Berliner KURIER: Lieber Herr Lenné, wie haben sich die Paare, die Sie betreuen, in der Corona-Pandemie geschlagen?

Fabian Lenné: Ich habe eine starke Polarisierung festgestellt. Die erste Phase, als der Lockdown anfing, war für viele Paare ganz angenehm. Besonders für die Paare mit kleinen Kindern. Die waren viel zu Hause und machten eine Art Urlaubserfahrung durch. Für die Hälfte der Paare war es eine angenehme Erfahrung. Für ein Viertel war es neutral. Für das letzte Viertel war es sehr anstrengend. Das, was man normalerweise mit Arbeit oder Freizeit kompensieren kann – also Dinge, die man tut, um den Partner nicht zu sehen und Luft zu holen –, das fiel plötzlich weg. In dieser Situation haben sich für einige Paare versteckte Konflikte zugespitzt.

Dieser Teil der Paare ist dann mit neuen Problemen in die Therapie gekommen?

Ja. Die anderen, denen der Lockdown gut getan hat, haben sogar Sitzungen abgesagt. Bei den Familien mit Kindern war das neue Glücksgefühl allerdings sehr abhängig von der Betreuung der Kinder durch die Schule. Ich kenne Kinder, die an Berliner Schulen unterrichtet werden, die gar nichts gemacht haben. Diese Kinder haben am Monatsanfang eine PDF-Datei mit Fragen zugeschickt bekommen und am Ende eine PDF-Datei mit den richtigen Lösungen. Diese Schulen haben quasi den gesamten Unterricht den Eltern überlassen. Die anderen hatten sehr guten Unterricht. Diesen Unterschied bekamen dann auch die Eltern zu spüren. Zwischen diesen beiden Polen spielte sich das ab.

Corona hat aus manch einer heimlichen Fernbeziehung eine echte Nah-Beziehung gemacht.

Fabian Lenné

Hatten Sie in den letzten Monaten kuriose Fälle, die eine neue Problemstellung auf den Plan geworfen hat – nach Corona? Oder war das Arbeit wie immer?

Eigentlich habe ich meine Arbeit nicht viel anders erlebt. Ich würde nur hinzufügen, dass durch die Intensivierung zu Hause manche Prozesse und Konflikte schneller vonstatten gingen und auch intensiver ausgetragen wurden. Das Einzige, was wirklich neu hinzukam, war eine diffuse Corona-Angst. Ich meine damit weniger die Angst vor dem Virus an sich, sondern die Angst vor den gesellschaftlichen Konsequenzen.

Spielen Sie auf die Corona-Leugner an?

Ich meine damit eher Leute, die eine große Angst haben vor dem großen Unbekannten, vor dem Nicht-Berechenbaren, das auf sie zusteuert. Das waren Menschen, die vielleicht mal auf eine Demo gegangen sind, die auch mal etwas Bizarres unterschrieben haben oder auf merkwürdigen Seiten herumgesurft sind. Diese Menschen, die ich meine, haben eine große Angst, weil unsere momentane Situation so unberechenbar scheint. Diese Unsicherheit hat in die Paarbeziehungen eingewirkt. Bei zwei Paaren waren es tatsächlich die Frauen, die sich mit fantasierten Ängsten herumschlagen mussten. Diese beiden Frauen haben darüber nachgedacht, wie sehr Corona ihnen die Zukunft verbaut. Ich spürte da eine Lebensangst, die sich in einer überraschend heftigen Kritik gegenüber dem Tragen einer Stoffmaske äußerte. Diese Menschen nahmen das Maskentragen als Bevormundung wahr und als Verlust der Freiheit.

Das waren keine Nazis?

Nein, überhaupt nicht. Ich spreche von Leuten, die in einer schwierigen Lebenssituation stecken, sowieso eine Art Grundangst verspüren und die ihr Leben noch nicht ganz im Griff haben. Plötzlich wird so viel von außen reglementiert – das macht Angst. Eine Frau hat ihre Ausbildung abgeschlossen, in einem Beruf, in dem sie ganz nah mit Menschen zusammenarbeiten muss. Das ist jetzt verboten. Der Berufseinstieg dieser Frau wurde durch Corona ruiniert. Auf einer imaginären Ebene könnte man sagen: „Das ist doch nicht so schlimm. Dann beginnt der Job eben nächstes Jahr.“ Aber diese Frau nahm das anders wahr. Sie hat sich besorgt gefragt, ob sie ihren Beruf jemals wird ausüben können. Das hat auch in die Beziehung mit ihrem Freund hineingewirkt. Ein Mensch kommt dann in eine innere Spannung. Das kann man eine bestimmte Zeit aushalten, aber eben nicht ewig.

Und wenn Sie die Anti-Corona-Demos betrachten … Sind da viele Menschen dabei, die ebenso eine gewisse Grundangst in sich tragen?

Ja, natürlich. Bei allen, die ich kenne, die zu den Anti-Corona-Demos hingegangen sind, handelt es sich um Menschen, die eine große Grundangst haben. Es kommt etwas Unüberschaubares auf sie zu, im wahrsten Sinne eine Bevormundung, die erschreckend wirkt. Das kann man geradezu körperlich festmachen. Durch eine Maske zu atmen, macht das Atemholen etwas schwieriger. Nur ein bisschen, aber immerhin. Man bekommt ein bisschen weniger Luft. Wenn ich mich recht entsinne, fußt Waterboarding auf einem ähnlichen Prinzip. Bei Waterboarding werden die Menschen fixiert, dann bekommen sie ein feuchtes Tuch übers Gesicht gelegt. Das reicht ja schon, um den Atem so zu behindern, dass eine Erstickungsangst ausgelöst wird. Ich kann mir vorstellen, dass bei manchen Leuten, die prinzipiell ängstlich sind, das Tragen von Masken, ohne dass sie es aussprechen oder benennen könnten, eine ähnliche Angst auslöst.

Wenn ich dieses Interview betiteln würde „Maskentragen ist wie Waterboarding“, gäbe es einen riesengroßen Sturm auf unsere Onlineseite.

(Lacht) Ja, das stimmt! Aber im Ernst. Ich wollte eigentlich zum Ausdruck bringen, dass ängstliche Leute nicht nur Angst vor Corona und dem Maskentragen haben, sondern generell eine Angst vor ihrer Zukunft. Und wenn man Angst hat, dann werden die kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt.

Zurück zur Paartherapie. Was ist mit den Paaren, denen Corona schlecht getan hat? Wirkte ausgerechnet die neue Nähe bedrohlich?

Ja, das ist ein bisschen so wie bei Menschen mit Fernbeziehung. Die treffen sich alle paar Wochen fürs Wochenende und spüren nur Freude: Man hat guten Sex, trifft Freunde, geht tanzen, und dann fährt man wieder nach Hause. Nach zwei Wochen trifft man sich wieder. Und alles ist wunderbar. Aber einen wichtigen Teil der Innenwelt, also Teile, die dem Partner vielleicht nicht so passen, die bleiben verborgen. Die schlechte Laune oder die Unlust auf Sex … Bei vielen Menschen, die viel arbeiten, fühlt sich der Alltag ganz ähnlich an. Die schlechten Seiten kanalisiert man anders. Wenn aber die Arbeit wegfällt und das Homeoffice kommt, dann ändert sich das Verhältnis. Man könnte auch sagen: Corona hat aus manch einer heimlichen Fernbeziehung eine echte Nah-Beziehung gemacht. Man kommt sich mit dem Partner plötzlich unerwartet nah.

Während Corona gab es Paare, die nicht in der Lage waren, ihre Konflikte zu lösen.

Fabian Lenné

Die Menschen mussten sich plötzlich miteinander beschäftigen?

Ja, und die große Frage war, ob die Menschen bereit dazu waren, ihre eigentlichen Konflikte zu lösen. Das Unbewusste ist ja ganz schlau. Manche Konflikte werden unter dem Teppich gekehrt, weil man noch keine Lösung parat hat. Klassiker sind Themen wie die Aufteilung von Heimarbeit. Während Corona gab es Paare, etwa zehn Prozent würde ich sagen, die nicht in der Lage waren, ihre Konflikte zu lösen. Die haben sich anschließend getrennt. Dreißig Prozent haben festgestellt, dass sie das gut hinbekommen.

Und die restlichen 60?

Das sind jene Paare, die sowieso miteinander gut zurechtkommen und mit den äußeren Umständen gut umgehen können. Was mich aber am meisten interessiert: Was werden wir im Dezember erleben, neun Monate nach dem ersten Lockdown? Wie viele Geburten wird es geben?

Sie glauben, der erste Lockdown hat zu mehr Sex geführt?

Da sind meine statistischen Werte zu klein. Ich denke, dass diese Extremsituationen wieder in beide Richtungen geführt hat, zu einer extremen Polarisierung: Jene Paare, die gut miteinander leben können, hatten auch mehr Sex. Jene Paare, bei denen es auch schon vor Corona nicht so gut lief, bei denen war das Begehren im Lockdown noch kleiner. Aber selbst bei den Paaren, die anfänglich viel Sex hatten, war das Begehren sicher irgendwann am Ende. Es gibt jetzt kein Paar, das ich betreue, das seit März konsequent durchvögelt. Irgendwann ist die Luft raus.

Manchmal ist es besser, einfach nur für sich selbst zu sein.

Fabian Lenné

Haben Sie einen Tipp für unsere Leser, falls der nächste Lockdown kommen sollte?

Das Wichtigste ist, dass sich Paare eine Struktur aufbauen, einen Tagesablauf haben, den Kontakt mit anderen Menschen aufrecht erhalten. Das war das größte Problem für alle Paare. Ich sage es mal so: Wenn das Leben eine formlose Masse wird, macht der Alltag keinen Spaß mehr. Viele Leute haben Probleme, sich in einer mit dem Partner bewohnten Wohnung innerlich abzugrenzen und eine Unterscheidung zu finden zwischen Miteinandersein und Für-sich-selbst-Sein.

Sonst wird der andere schnell unsexy?

Das auch.

Man wird dem anderen überdrüssig?

Ja. Die ganze Geschichte geht aber noch tiefer. Wir haben ja zwei Pole in uns. Der eine will nur mit sich selbst sein, seine Sachen machen und sich nicht vermischen mit der Außenwelt – also seinen Gedanken nachhängen und Zeit für sich selbst haben. Und der andere Pol möchte herumschwimmen und sich mit anderen vermischen. Das ist der gemeinschaftliche Pol. Manchmal ist es aber besser, einfach nur für sich selbst zu sein. Es gibt so Momente, da ist man mit sich selbst im Einklang, und dann kommt der Partner hereingeplatzt und fragt: „Haben wir noch Milch?“ Das reicht dann schon aus, dass man den Flow mit sich selbst verliert. Wenn man die ganze Zeit räumlich aufeinander herumhockt, dann ist es natürlich verlockend, das Mit-sich-selbst-Sein aufzugeben. Vor Corona hatte man ja viele solcher Momente des Alleineseins: auf dem Weg zur Arbeit, in der U-Bahn, wenn man also den Autisten spielen konnte und mit allen anderen nicht in Kontakt treten musste. Das ist die Zeit, in der man im besten Fall in sich selbst zurücksinkt. Das sind wichtige Momente, die man als Mensch braucht. Man muss für sich selbst Zeit finden und positiv asozial sein. Zusammensein ist schön, aber mit sich selbst zu sein, ist genauso wichtig. Auf diese Balance zu achten, das wäre mein Tipp.

Fabian Lenné, Jahrgang 1960, arbeitet seit 20 Jahren als Paartherapeut in Berlin. Er ist Autor des Buches „Vom Umgang mit der Liebe“. Lenné ist Ausbildungsleiter am Institut für Integrative Paarentwicklung. Weitere Infos unter: www.paartherapie-berlin.info

Das Gespräch führte Tomasz Kurianowicz.