Astrazeneca-Impfstoff: Wirklich zweitklassig oder gnadenlos unterschätzt?
Das Mittel des britisch-schwedischen Herstellers sehen viele kritisch. Wie berechtigt sind die Bedenken zu Nebenwirkungen und Wirksamkeit?

Bisher war Impfstoff in der Pandemie heiß begehrt. Doch beim Vakzin von Astrazeneca scheint das anders zu sein. In den Impfzentren lagern Tausende Dosen des britisch-schwedischen Herstellers unberührt. Während ein Großteil der Bevölkerung sehnsüchtig auf den rettenden Piks wartet, lassen Impfberechtigte ihre Termine platzen. Es herrscht zunehmend Verunsicherung, teils Misstrauen über Nebenwirkungen und Wirksamkeit des Vakzins.
Angeheizt wurde die Debatte durch Weltärztebund-Vorstandschef Frank Ulrich Montgomery, der sich dagegen aussprach, medizinisches Personal und Pflegekräfte mit dem Astrazeneca-Mittel AZD1222 zu impfen. Er zog damit Kritik auf sich, etwa vom SPD-Politiker Karl Lauterbach, der ankündigte, sich selbst mit Astrazeneca impfen zu lassen. Seitdem überschlugen sich die Meldungen.
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Winfried Rief, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg, vermutet in einem Gespräch mit n-tv, dass die „schlechte Presse“ des Astrazeneca-Impfstoffs der Hauptgrund für die Skepsis sei. Dieser sei in eine Negativspirale geraten. Ein Überblick über die Bedenken – und die Fakten dazu.
Wie gut schützt der Astrazeneca-Impfstoff?
Das primäre Ziel einer Impfung ist es, vor einer Erkrankung mit Covid-19 zu schützen. Das tun die bisher in der EU zugelassenen Impfstoffe mit guter bis sehr guter Effizienz. Schwere Covid-19-Erkrankungen und tödliche Verläufe potenziell tödlicher Fälle scheinen sie vollständig zu unterbinden.
Der Impfstoff von Astrazeneca ist ein sogenannter Vektorimpfstoff. Hier liegt der Unterschied zu den mRNA-Impfstoffen von Biontech/Pfizer sowie Moderna. Anfang Dezember hatten Wissenschaftler der Universität Oxford, die an der Herstellung des Astrazeneca-Vakzins mitgewirkt haben, im Fachmagazin Lancet berichtet, dass ihr Impfstoff eine Wirksamkeit von bis zu 70 Prozent aufweist. Biontech/Pfizer und Moderna kommen beide auf mehr als 90 Prozent.
Die Werte nebeneinanderzulegen, kann aber trügen: „Die Impfstoffe wurden nicht gegeneinander verglichen“, erklärt der Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) Christian Bogdan vom Uniklinikum Erlangen. „Wir müssen sehen, dass sie in unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Populationen getestet wurden.“ Die bisherigen Studien erlaubten demnach keine Aussagen darüber, ob es wirklich relevante klinische Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Präparaten gibt.
Kann die Wirksamkeit der Impfung erhöht werden?
Astrazeneca selbst hat weitere Daten einer Studie publiziert, die klare Hinweise lieferten, dass die Wirksamkeit der Impfung bei einem Impfabstand von mindestens zwölf Wochen zwischen den beiden Dosen auf mehr als 80 Prozent steigt. Diese lag bei 55 Prozent, wenn zwischen den Dosen nur bis zu sechs Wochen lagen. Inwiefern Geimpfte die Viren noch weitergeben können, wird derzeit untersucht.
Unklar ist, wie gut das Mittel gegen Virusvarianten wirkt. Eine Studie lässt vermuten, dass der Impfstoff nur minimal vor leichten und moderaten Erkrankungen nach einer Infektion mit der aus Südafrika stammenden Mutante B.1.351 schützt. In Südafrika wurden die geplanten Impfungen mit Astrazeneca daher vorerst gestoppt.
Immunologen schlagen eine spätere Nachimpfung mit einem anderen Mittel vor. „Man kann die Immunität, die man mit dem Astrazeneca-Impfstoff ausgelöst hat, ohne Probleme mit einem mRNA-Impfstoff später noch einmal verstärken“, sagte Immunologe Carsten Watzl in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), Klaus Cichutek, schränkte allerdings ein: Bislang sei noch nichts darüber bekannt, „ob man später einen anderen Impfstoff nehmen kann, um noch mal vielleicht in einem Jahr die entsprechende Schutzwirkung zu boosten“. Es hätten aber bereits klinische Studien dazu begonnen.

Was steckt hinter den Angaben zur Wirksamkeit?
Angaben zur Wirksamkeit können schnell missverstanden werden. Eine Wirksamkeit von 70 Prozent bedeutet nicht, dass der Impfstoff bei drei von zehn Impflingen nicht wirkt. Der Wert beziffert nämlich nicht die absolute, sondern die relative Risikoreduktion. Er zeigt also, wie gut die Impfung die Zahl der Erkrankten senken kann.
Das Rechenbeispiel des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen macht das mit den Studiendaten des Biontech/Pfizer-Vakzins deutlich: Während in der Impfgruppe fünf von 10.000 Studienteilnehmern erkrankten, waren es in der Gruppe, die ein Placebo bekommen hatten, 93 von 10.000. Daraus errechnet sich eine Wirksamkeit von 95 Prozent, denn unter den Geimpften treten 95 Prozent weniger Erkrankungen auf als unter den nicht Geimpften.
In der Astrazeneca-Zulassungsstudie wiederum erkrankten fünf von 1000 Teilnehmern in der Impfgruppe und 18 von 1000 in der Vergleichsgruppe – es gab also 70 Prozent weniger Erkrankungen in der Impfgruppe.
Warum wird der Impfstoff trotzdem nur für Menschen unter 65 empfohlen?
Zu mehr Unsicherheit hat sicherlich auch der Umstand beigetragen, dass die Stiko das Vakzin nur für Menschen unter 65 empfohlen hat. „Diese vermeintlich unterschiedliche Wirksamkeit in Abhängigkeit vom Alter ist der Tatsache geschuldet, dass in der Astrazeneca-Studie zu wenige Probanden aus höheren Altersgruppen aufgenommen waren und in der Kontrollgruppe zu wenig Covid-19-Fälle auftraten. Deshalb konnte die Stiko zur Wirksamkeit bei Senioren keine Aussage treffen“, sagt Stiko-Mitglied Christian Bogdan.
Die Europäische Arzneimittelagentur EMA räumte zwar ebenfalls ein, dass für Menschen ab 55 Jahren noch nicht genügend Ergebnisse vorlägen, um eine klare Aussage darüber zu treffen, wie gut der Impfstoff in dieser Gruppe funktioniert. Nichtdestrotz werde eine Schutzwirkung erwartet, da auch bei Älteren eine Immunantwort beobachtet wurde, heißt es weiter. Außerdem habe man ähnliche Erfahrung mit anderen Impfstoffen gemacht.
Was ist mit den Nebenwirkungen?
Das für die Sicherheit von Impfstoffen zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bewertet das Nutzen-Risiko-Profil für alle drei Impfstoffe weiterhin als positiv. Sowohl eigene Analysen als auch internationale Daten wiesen nicht auf ein neues Risikosignal hin. Nach Angaben des RKI wurde das Corona-Mittel von Astrazeneca in Deutschland bisher mehr als 31.000-mal verabreicht. Laut dem jüngsten PEI-Sicherheitsbericht wurden 20 Verdachtsfälle von Nebenwirkungen oder Impfkomplikationen in Bezug auf das Astrazeneca-Vakzin gemeldet, davon waren elf schwerwiegend. Das sei eine sehr geringe Anzahl an Meldungen, weshalb die Zahlen mit äußerster Vorsicht zu interpretieren seien, so das PEI.
In den Hersteller-Studien zu Astrazeneca wurden als die häufigsten Impfreaktionen Druckempfindlichkeit und Schmerzen an der Injektionsstelle (über 60 beziehungsweise 50 Prozent), Kopfschmerzen und Ermüdung (über 50), Muskelschmerzen und Krankheitsgefühl (über 40), Fiebrigkeitsgefühl und Schüttelfrost (über 30), Gelenkschmerzen und Übelkeit (über 20) angegeben. Häufig (zwischen 1 und 10 Prozent) traten Fieber mit mehr als 38 Grad, Schwellung und Rötung an der Einstichstelle sowie Übelkeit und Erbrechen auf. Diese Nebenwirkungen traten bei Astrazeneca in den meisten Fällen kurz nach der Impfung auf und waren nicht mit schwereren oder länger andauernden Erkrankungen verbunden – vor allem unterscheiden sie sich kaum von den Impfreaktionen auf die anderen beiden zugelassenen Vakzine.
„Ein Unterschied zwischen den Impfstoffen ist, dass diese Nebenwirkungen bei mRNA-Impfstoffen in mehr Fällen und stärker nach der zweiten anstelle der ersten Impfung auftreten. Bei Astrazeneca ist es genau umgekehrt“, sagte der Immunologe Carsten Watzl. Reaktionen des Körpers bei Impfungen seien nicht überraschend und in der Regel Ausdruck davon, „dass der Impfstoff das tut, was er tun soll, nämlich eine Immunreaktion auszulösen“.
Was ist mit den Berichten zu den vermehrten Krankmeldungen?
Vergangene Woche überschlugen sich Meldungen von Erwerbstätigen, die nach Impfungen mit dem Astrazeneca-Mittel vermehrt hohes Fieber entwickelten. In einigen schwedischen Regionen wurde ein kurzzeitiger Impfstopp eingeleitet – weil sich viele medizinische Angestellte nach einer Impfung mit dem Astrazeneca-Vakzin krankschreiben lassen mussten und es zu einem akuten Personalmangel kam. Der Impfstopp wurde jedoch schnell wieder aufgehoben.
Gerade bei jüngeren Menschen fielen Impfreaktionen deutlicher aus, da sie im Gegensatz zu Älteren das aktivere Immunsystem hätten, sagt Bogdan. Der derzeitige Fokus auf Astrazeneca-Nebenwirkungen kann also mit den berufstätigen Impflingen zu tun haben. Deren Beschwerden werden eher bekannt, wenn sie sich etwa krankmelden. mRNA-Impfstoffe werden derzeit vor allem Senioren verabreicht.
Die WHO empfiehlt, dass Mitarbeiter des Gesundheitswesens mit dem Mittel von Astrazeneca organisierter geimpft werden sollten, da Nebenwirkungen gelegentlich zu Arbeitsausfällen in den 24 bis 48 Stunden nach der Vakzinierung führen können. Eine Lösung wäre es, das Personal freitags zu impfen oder zumindest die Impftermine in der Belegschaft besser zu verteilen.
Vorstand Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz macht darauf aufmerksam, dass es schon im Januar Impfreaktionen auf die Vakzine von Biontech/Pfizer und Moderna gab. Das hätten pflegerisch-medizinische Mitarbeiter berichtet. Doch diese Stimmen wurden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Wieso halten so viele Politiker an Astrazeneca fest?
Das Astrazeneca-Mittel ist ein wichtiger Baustein in der Impfstrategie, da es weniger hohe Anforderungen an Transport und Lagerung stellt als die mRNA-Impfstoffe. Es ist bislang das einzige in Deutschland zugelassene Corona-Mittel, mit dem eine Impfung in einer Arztpraxis praktisch gut möglich wäre.
Hinzu kommt, dass der Impfstoff vergleichsweise billig ist. Die Dosis kostet laut EU-Preisliste 1,78 Euro, die Mittel von Biontech/Pfizer und Moderna 12 Euro beziehungsweise 14,70 Euro. Doch auch der Preis scheint dem Image von Astrazeneca zu schaden: In der Öffentlichkeit ist von einem Mittel „zweiter Klasse“ die Rede.
Gibt es Lösungsvorschläge?
Immer mehr Politiker sprechen sich dafür aus, den Astrazeneca-Impfstoff für weitere Impfgruppen in der Bevölkerung freizugeben. So auch Karl Lauterbach: „Wir sollten den Astrazeneca-Impfstoff für die ersten drei Priorisierungsgruppen freigeben“, sagte er dem Spiegel. „Dann könnten sich Millionen von Unter-65-Jährigen schnell impfen lassen, darunter Polizisten, Lehrerinnen und Erzieher.“ Mit der Freigabe könnte die Auslastung in den Impfzentren von fünf Tagen pro Woche auf sieben erhöht werden.
Was sagen andere Experten?
Der Virologe Christian Drosten hält grundsätzliche Bedenken gegen den Astrazeneca-Impfstoff für unbegründet und ist für einen breiten Einsatz des Präparats. Die Ärztekammer Berlin schließt sich dem an und ruft alle impfberechtigten Beschäftigten in der ambulanten und stationären Versorgung dazu auf, die „Chance der Impfung gegen Covid-19 zu ergreifen“ und sich dringend mit dem Vakzin von Astrazeneca impfen zu lassen.
Jeder Impfstoff biete einen deutlichen Schutz vor einer Corona-Erkrankung und sei „um ein Vielfaches besser als keine Impfung“, sagte Carsten Watzl. „Zu sagen, der Astrazeneca-Impfstoff wäre zweitklassig, ist sowohl wissenschaftlich als auch von der öffentlichen Wirkung völlig daneben.“
Dirk Heinrich, Chef des Virchowbundes, der die niedergelassenen Ärzte vertritt, wurde noch deutlicher: „Wer aus Gründen des Populismus und der Selbstdarstellung den Impfstoff von Astrazeneca schlechtredet, indem er die Wirksamkeit anzweifelt und medizinischem Personal von einer Impfung abrät, macht sich mitschuldig daran, wenn der Lockdown länger dauert als nötig und gerade die älteren Menschen weiter an Covid-19 sterben.“