Anschlag auf Nawalny mit einem Allerwelts-Gift
Nervengifte zu verwenden, die das Enzym Cholinesterase hemmen, hat eine lange Tradition. Das legt die Vermutung nahe, dass die Tat bemerkt werden soll.

Es gibt erst wenig Klarheit im Fall Alexej Nawalny. Ob der Kremlkritiker tatsächlich wie vermutet Opfer eines Giftanschlags wurde, lässt sich auch nach der Untersuchung an der Charité nicht mit Gewissheit sagen. Immerhin aber gibt es inzwischen eine Spur: Die Ärzte der Berliner Universitätsmedizin fanden, wie bereits berichtet, Hinweise darauf, dass eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer den plötzlichen Zusammenbruch des 44-Jährigen ausgelöst hat.
Schon diese Information fügt dem Bild einige Puzzlesteine hinzu. Denn derartige Substanzen sind im Grunde ein Klassiker unter den Nervengiften. Die Symptome sind Ärzten normalerweise gut vertraut, es gibt ein Gegengift zur Behandlung – doch wenn sich die Therapie verzögert, verschlechtern sich die Chancen auf Genesung. Daraus könnte man schließen, dass die Tat nicht unbemerkt bleiben sollte, etwa als Warnung an andere Kremlkritiker. Daraus könnte man auch schließen, dass die Verzögerung im Krankenhaus im sibirischen Omsk Taktik war. Doch das ist Spekulation.
Cholinesterase-Hemmer sind eine gut bekannte Stoffgruppe. „Die wichtigsten chemischen Kampfstoffe – Nervengase wie Sarin, VX, Soman, Tabu, Cyclosarin –, aber auch bestimmte Pestizide wirken so, etwa E605, Chlorpyrifos. Man kennt sich deshalb damit sehr gut aus“, sagt der Pharmakologe und Toxikologe Thomas Hartung von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health im Gespräch mit dem Science Media Center (SMC) Germany. Die Substanzen seien sehr gut nachweisbar, auch Tage und Wochen nach der Vergiftung. „Wir werden bald wissen, welche Substanz verwendet wurde“, prognostiziert der Experte.
Kleine Pupillen, Speichelfluss, Spasmen und Krämpfe
Interessanterweise gehören auch die Nowichok-Nervenkampfstoffe zu dieser Wirkstoffgruppe, die 2018 bei der Vergiftung des russischen Doppelagenten Skripal in England verwendet wurden, berichtet Hartung. „Ich habe damals gesagt, die Russen hätten auch eine Visitenkarte am Tatort liegen lassen können, da die Substanzen so klar zugeordnet werden können.“
Ob Nawalny wieder genesen werde oder ob mit Spätfolgen im Bereich des Nervensystems zu rechnen sei, wie es die Charité am Montag andeutete, lasse sich nur schwer einschätzen. „Die Aussichten der Behandlung hängen davon ab, wie viel von welcher Substanz verabreicht wurde und wie schnell die richtige Therapie eingeleitet wurde“, sagt Hartung.
Cholinesterase-Hemmer blockieren ein Enzym, das im Körper für den Abbau des Nervenbotenstoffs Acetylcholin zuständig ist. Dieses Enzym, Cholinesterase, reguliert die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln. „Wird es gehemmt, können die Muskeln sich nicht mehr zusammenziehen und entspannen, stattdessen entwickeln sie eine Art Krampf“, erläutert Alastair Hay, Professor für Umwelttoxikologie an der britischen University of Leeds nach Informationen des britischen SMC. Klassische Symptome einer Vergiftung dieser Art sind demnach extrem kleine Pupillen, Speichelfluss, Spasmen und Krämpfe, Lähmungen und Herzversagen. Besonders gravierend seien die Auswirkungen des Gifts aber auf die Atmung, erläutert Hay. „Wenn die Atmung unterbunden ist, wird der Betroffene bewusstlos.“

Je nachdem, auf welchem Weg Cholinesterase-Hemmer in den Körper gelangen, entwickeln sich die Symptome unterschiedlich. „Wenn sie mit der Nahrung aufgenommen werden, kommt es zu kolikartigen Schmerzen, begleitet von Schwindel, Erbrechen und Durchfall“, erläutert der britische Toxikologe. „Verteilt sich der Giftstoff anschließend im Körper, wird der Betroffene schwach, kann sich nicht mehr aufrecht halten, schwitzt und hat Schwierigkeiten beim Atmen, Sehen und Sprechen.“
Für die Behandlung gebe es zwar Gegenmittel wie Atropin, das einige Effekte der Cholinesterase-Hemmer blockiere. Dennoch: „Die Behandlung kann sehr schwierig sein, und Verzögerungen können Komplikationen hervorrufen“, sagt Alastair Hay. Je nach Substanz bestehe auch die Möglichkeit der Behandlung mit einem Gegengift aus der Gruppe der Oxime, denn diese helfen dabei, das Enzym von dem Hemmstoff zu befreien. „Oxime wirken aber am besten, wenn sie bald nach der Vergiftung verabreicht werden“, erläutert der Experte.
Meist in flüssiger Form
Dass es nicht so trivial ist herauszufinden, um welche Substanz genau es im Fall Nawalny geht, liegt an der besonderen Größe der Wirkstoffgruppe. So gehören sowohl diverse Chemikalien wie die als Pestizide eingesetzten Organophosphate und Carbamate als auch Nervengase wie Sarin und Nowichok zu den Cholinesterase-Hemmern. Darüber hinaus existieren Wirkstoffe wie Donepezil und Rivastigmin, die als Arzneien für Krankheiten wie Alzheimer-Demenz therapeutisch eingesetzt werden, um die Erregbarkeit des Nervensystems zu steigern.
„Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, wie Herr Nawalny in Kontakt mit diesen Stoffen gekommen sein könnte“, sagt Andrea Sella, Professorin für Anorganische Chemie am University College London. Derartige Substanzen seien typischerweise Flüssigkeiten und würden vom Körper über die Haut oder Schleimhäute absorbiert. Auch Einatmung in Form von Aerosolen sei möglich. Doch dann hätten eigentlich mehrere Personen betroffen sein müssen, gibt die Expertin zu bedenken. Auf alle Fälle müssten die für die chemische Analyse zuständigen Experten ein breites Spektrum an Verbindungen überprüfen, um Fragmente der Ausgangssubstanz aufzuspüren.
Zu den bangen Fragen gehört nun, wie sich der Gesundheitszustand Nawalnys entwickelt. Den Informationen der Charité zufolge ist der Zustand ernst, es besteht aber keine akute Lebensgefahr. Der Patient liegt weiterhin im künstlichen Koma. Alastair Hay sagt, dies sei eine Maßnahme, die üblicherweise ergriffen wird, bis das Gift vom Körper abgebaut ist. „Das kann einige Zeit dauern“, erläutert der britische Toxikologe. „Mehrere Tage, sogar Wochen – je nach der chemischen Halbwertszeit der Substanz.“